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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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als wäre Andreas in Gedanken weit fort. Er blinzelte. »Tja, Jule, ich hab dir doch gesagt, wie diese Leute sind. Es wundert mich, dass dir noch keiner die Reifen platt gestochen hat.«
    Das reichte Jule nicht. »Aber gibt es denn nicht irgendwen, der dir gegenüber besonders aggressiv war wegen des Projekts?«
    »Doch.« Er nickte enthusiastisch. »Das halbe Dorf. Ich könnte dir jetzt ein paar Namen runterleiern, aber was dann? Hm? Was dann? Willst du die alle anzeigen? Nur zu. Das wird deine Beliebtheit immens steigern. Lass es gut sein. Oder besser noch: Mach’s wie ich. Scheiß auf das Projekt. Scheiß auf Odisworth. Scheiß auf Schwillmer und seinen Kackladen. Dann geht es dir gleich viel besser.«
    So kam Jule nicht weiter. Das dauerte zu lange. Sie beschloss, ihm näher zu erläutern, wie er ihr vielleicht helfen konnte. »Ich habe einen der größten Grundstücksbesitzer fast so weit, dass er verkauft. Hanno Küver und seine Frau sind in Geldnöten, und sie –«
    »Wir waren Freunde.« Begeistert beugte er sich vor, um in den Fotos im Karton zu wühlen. »Wir waren Freunde. Kirsten Küver und ich. Wir waren Freunde.«
    Seine unvermittelte Euphorie trug nicht dazu bei, Jules Magen zu beruhigen. Im Gegenteil. Es war ihr unheimlich, wie er auf jede ihrer Äußerungen mit einer anderen Stimmung reagierte. In den letzten drei Minuten hatte sie ihn abwechselnd heiter, bestürzt, verbittert, abwesend und nun wieder heiter erlebt. Es war, als würden die Gefühle in ihm Karussell fahren. Dass er eine Pistole in Griffweite hatte – wenn auch eine ungeladene –, war auch nicht gerade beruhigend. »Ich weiß, dass ihr Freunde wart.«
    Sein Lächeln gefror. Er presste ein Foto, das er eben aus dem Karton gezerrt hatte, an seine Brust und zischte: »Wer hat dir das verraten?«
    »Ihre Mutter«, erwiderte Jule rasch. Es kostete sie große Überwindung, nicht doch aus dem Sessel aufzuspringen und aus der Tür zu laufen. Was war nur mit ihm los?
    »Klar, ihre Mutter. Und ich habe es dir ja eben auch gerade gesagt. Ich bin ein Idiot.«
    Jule hatte das Gefühl, als legten sich ihr eiskalte Hände um den Hals. Zum zweiten Mal binnen weniger Tage saß sie im Wohnzimmer eines Mannes, aus dessen Umfeld überraschend eine Frau verschwunden war. Sie hatte keine Ahnung, wohin sich Margarete Fehrs geflüchtet hatte. Im Fall von Kirsten Küver jedoch gab es wenigstens eine Vermutung. »Kirsten hat sich nach Asien abgesetzt, richtig?«
    »Ja.« Er nickte und musterte sie ernst. »Genau so war es. Wir haben uns gestritten, weil ich das für einen blöden Einfall von ihr hielt, aber sie hat nicht auf mich gehört. Und jetzt ist sie fort. Für immer. Sie kommt bestimmt nicht wieder. Warum auch?« Er legte den Kopf in den Nacken und massierte sich die Nasenwurzel. Als er sich nach einer halben Minute aufsetzte, wirkte er betreten. »Ich bin der schlechteste Gastgeber der Welt.« Er zeigte auf eine der leeren Dosen. »Magst du was trinken?«
    »Nein.« Jule stemmte sich aus dem Sessel hoch. »Aber ich müsste mal für kleine Mädchen.«
    »Raus auf den Flur und die Erste rechts«, antwortete er. Das Grinsen, das er anfangs gezeigt hatte, kehrte auf sein Gesicht zurück. »Es ist das Zimmer mit der Kloschüssel. Kaum zu verfehlen.«
    Das stimmte. Das Bad war zu klein für eine Wanne. Der Duschvorhang starrte vor Kalkflecken, und die Klobrille war dreckig. Jule klappte den Deckel herunter, setzte sich darauf und wollte zum Schlüssel greifen, um abzuschließen. Sie musste feststellen, dass es nicht einmal einen Haken gab, um die Tür zu verriegeln. Ihr war furchtbar schlecht. Warum hatte sie sich nicht in irgendeinem Café mit Andreas getroffen? Dann wäre ihr wesentlich wohler gewesen. Nicht nur deshalb, weil dort nicht dieser widerliche Gestank in der Luft gelegen hätte. Was, wenn er die Beherrschung über sich verlor und sie angriff? Was, wenn er doch irgendwo Munition für seine Pistole herumliegen hatte? Was, wenn er sie genau in diesem Augenblick lud? Er war eindeutig nicht bei klarem Verstand.
    Sie wühlte in den Fächern eines Rollwägelchens neben der Waschmaschine und fand ein Necessaire. Zuerst dachte sie darüber nach, die Nagelfeile in die Seitentasche ihres Jacketts zu stecken, aber die fühlte sich viel zu leicht und zu zerbrechlich an. Sie entschied sich für eine spitze Nagelschere. Das war besser als nichts.
    Sie riss drei Blätter Toilettenpapier ab und schnäuzte sich die Nase. Sie wollte ihr improvisiertes

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