Der Wind bringt den Tod
Taschentuch in ein blaues Plastikeimerchen unter dem Waschbecken werfen, verfehlte ihr Ziel aber. Als sie sich bückte, fiel ihr Blick in den Eimer und sie hielt mitten in der Bewegung inne. Die eine Medikamentenschachtel trug den Schriftzug Haloperidol , die andere Zoloft . Sie hatte den Beweis dafür gefunden, dass es um Andreas’ psychische Verfassung noch schlimmer stand, als sie vermutet hatte.
88
Mit Zoloft hatte Jule eigene Erfahrungen gesammelt – es war ein beliebtes Antidepressivum, das auch zur Behandlung von Angstzuständen verwendet wurde. Sie hatte es nach ihrem Unfall für rund sechs Monate regelmäßig in einer genau abgewogenen Dosis eingenommen. Sie wusste genau, was es mit einem anstellte: Es fuhr einen herunter. Der Preis dafür war bei ihr anfänglich eine gewisse Trägheit und später eine kleine Gewichtszunahme gewesen. Sie hatte das Medikament damals abgesetzt, nachdem sie sich nicht mehr auf ihrem Bett zusammenrollen musste, sobald ihre Eltern den Unfall auch nur erwähnten.
Haloperidol kannte sie nicht. Sie kramte die Schachtel aus dem Müll und überflog den Beipackzettel. Es überraschte sie nicht, dass es sich um ein Neuroleptikum handelte, das schizophrenen Schüben entgegenwirkte. An Andreas war von der genannten Wirkung, einer Sedierung, allerdings kaum etwas zu bemerken. Sie war beileibe keine Expertin auf diesem Gebiet, doch ihrer Einschätzung nach bedeutete das eines von zwei Dingen: Entweder sprach Andreas nicht auf das Medikament an, oder sein Verhalten wäre ohne den Wirkstoff noch auffälliger, noch verstörender gewesen.
Sie legte die Schachteln zurück in das Eimerchen, drückte die Klospülung und wusch sich die Hände. Sie konnte sich nicht ewig vor ihm verstecken. Sie öffnete die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer. Mit einer Hand hielt sie die Schere in der Tasche ihres Jacketts so umschlossen, dass sie die kleine Waffe notfalls stoßbereit herausziehen konnte.
Als sie sah, was Andreas gerade machte, blieb sie im Türrahmen stehen: Er hatte ein Einwegfeuerzeug heiß gemacht und brannte damit Stellen auf einem Foto aus. »Wir waren Freunde«, sagte er wie zu sich selbst. Er arbeitete mit der Akribie eines Menschen, der einer wichtigen Aufgabe nachging. »Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Wir haben uns alles erzählt. Alles.«
Jule stellte laut ihre dringlichste Frage: »Weißt du, wo Jan Nissen ist?«
Bei der Erwähnung dieses Namens ruckte Andreas’ Kopf nach oben und dann in ihre Richtung. Er prüfte die Temperatur der Metallteile an der Spitze des Feuerzeugs mit der Kuppe seines Daumens, blinzelte und zündete es wieder an. »Wir waren Freunde.« Er bedeutete ihr mit einem Wink, an den Couchtisch zu treten. »Ich erzähle keine Lügen. Es ist die Wahrheit. Sieh es dir an.«
Sie machte gerade so viele Schritte in den Raum hinein, dass sie die drei Fotos betrachten konnte, die er vor sich ausgebreitet hatte. Es war schwer, etwas darauf zu erkennen. Zum einen, weil sie für Jule auf dem Kopf standen. Zum anderen, weil sie von hufeisenförmigen Brandflecken übersät waren, als wäre ein winziges brennendes Pferd darüber hinweg getrabt.
Er zeigte auf das Bild, das von Jule aus gesehen ganz rechts in der Reihe lag. »Da sind sie drauf. Kirsten und Jan.« Das Foto zeigte zwei Teenager, deren Köpfe weggeschmort waren. Sie hielten sich wahrscheinlich im Zimmer des Jungen auf, denn es gab HSV-Bettwäsche, ein Metallica-Poster an der Wand und Actionfiguren auf den Regalen. Das Mädchen lag ausgestreckt rücklings auf dem Bett und trug ein bauschiges grünes Kleid aus Satin. »Das ist vor Kirstens Abschlussball an der Tanzschule. Sie war schon immer hübsch. Sie hat sich gern von uns schminken lassen.« Das erklärte, weshalb der Junge neben ihr kniete. Er hatte seinen Babyspeck noch nicht ganz verloren. Seine Beine steckten in fleckigen Jeans, und er hatte ein T-Shirt in Tarnfarben an. In der einen Hand hielt er einen hauchdünnen Pinsel, in der anderen einen Kajalstift.
Andreas’ Finger wanderte zum nächsten Bild. »Das ist vor Jans Haus.« Jule erschauerte, als sie feststellte, dass sie das abgebildete Gebäude bisher nur mit ausgebranntem Obergeschoss kannte. Zum Zeitpunkt dieser Aufnahme stand es dem Hof der Küvers in Sachen Gepflegtheit allerdings in nichts nach. »Der Mann ist Jans Vater. Er war immer verdammt stolz auf Jan. Meistens jedenfalls.« Klaas Nissen musste knapp an die zwei Meter groß gewesen sein. Er hatte breite Schultern, eine
Weitere Kostenlose Bücher