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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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ungeformten Gedanken wieder herauf, den Jule zuvor versucht hatte, zu verwerfen. Sie dachte an die leeren Arzneipackungen in Andreas’ Badezimmer. »Warum bin ich in Odisworth eigentlich nie deinen Eltern begegnet? Sie stehen nicht im Telefonbuch. Niemand im Dorf hat sie erwähnt. Warum?«
    Er kniff die Augen zusammen. »Weil meine Eltern tot sind.«
    Jule verschlug es den Atem. Konnte es sein, dass der ungeheuerliche Verdacht, der in ihr aufkeimte, tatsächlich die Wahrheit war? »Sind deine Eltern bei einem Feuer ums Leben gekommen?«
    »Was?«
    Jule sprach das Undenkbare aus. »Bist du Esbert? Bist du Jan Nissen?«
    Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit, während sie auf eine Antwort von ihm wartete. Er rieb sich mit den Händen über die Oberschenkel und sah sie durchdringend an. »Du weißt, wer ich bin. Ich heiße Andreas Bertram«, sagte er schließlich ruhig.
    »Namen kann man ändern«, wandte sie ein. Sie wusste, wovon sie redete. Nach ihrem Unfall hatte sie eine Weile die Möglichkeit erwogen, Jule Schwarz symbolisch sterben zu lassen, um den unfassbaren Schmerz in ihr zu lindern. Warum hätte Jan Nissen nicht das Gleiche machen sollen? »Bist du Jan Nissen?«
    »Wie kommst du auf so einen Blödsinn?« Seine Stimme wurde kalt und stählern. »Bist du wahnsinnig, oder was?«
    Er stand auf.
    »Bleib, wo du bist!«, schrie Jule und zückte die Schere. Ihr gesamter Unterleib zog sich schmerzhaft zusammen. »Ich stech dich ab, du krankes Schwein!«
    Das war die Wahrheit. Sie würde es tun. Wenn er auch nur einen Schritt näher kam, würde sie ihm die Schere in den Leib rammen. Wieder und wieder. Am besten in den Hals.
    Seine Reaktion war völlig unerwartet. Er setzte sich, hob beschwichtigend die Hände und sagte ruhig: »Jule, um Himmels willen. Was glaubst du denn von mir? Dass ich dir etwas antun will? Jule, wir kennen uns seit Jahren. Wir sind Kollegen. Wofür hältst du mich?« Er zeigte zum Flur. »Da draußen ist ein Telefon. Ruf Eva Jepsen an und frag sie nach mir. Frag danach, wie ich aussehe, und frag sie, wie Jan aussieht. Ich bin nicht Jan Nissen.«
    Jule zögerte. Es konnte sein, dass er bluffte. Dass er nicht zurechnungsfähig war. Dass er sie umbringen wollte.
    »Ich bin nicht Jan Nissen.«
    Für einen kurzen Moment hörte er sich so an wie der Andreas Bertram, den Jule seit Jahren kannte. Ihr dämmerte, dass sie gerade einen folgenschweren Fehler begangen hatte. Sie ließ die Schere fallen und rannte aus der Wohnung.

89
     
    Ute Jannsen drückte zum zehnten oder elften Mal lange auf die Hupe ihres Škoda Fabia. War Assmuth neuerdings taub? Sie stand schon geschlagene zehn Minuten am Ortsrand von Joldebek vor der Wache, und er ließ sich einfach nicht blicken. Zu ihm hineingehen konnte sie nicht, das wäre zu auffällig gewesen.
    Sie schaute zu dem Flachbau hinüber. Durch ihre Sonnenbrille wirkte das braune Mauerwerk des Gebäudes noch dunkler. Stumm verfluchte sie Mangels und betastete vorsichtig ihr linkes Auge. Das Lid war geschwollen und fühlte sich wie ein Schwamm an, der sich mit Schmerz vollgesogen hatte. Er war eben ein Schwein, auch wenn sie es womöglich verdient hatte, dass sie mit Gewalt zur Besinnung gerufen worden war. Es war eine schlechte Idee gewesen, diesen übereifrigen Hoogens auf den Brand anzusetzen. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Sie wusste es selbst nicht mehr. Sie wollte doch nur, dass Erich keinen Ärger bekam. Er hatte nun wirklich genug gelitten.
    Sie nahm die Finger von ihrem Auge, als sie die Tür der Wache aufschwingen sah. Assmuth sah aus wie ein geprügelter Hund. Er schlich förmlich zu ihrem Wagen, den Kopf tief in den Nacken gezogen.
    Sie kurbelte die Scheibe hinunter.
    »Ich kann nicht mit dir reden«, sagte er sofort. »Hau bloß ab, bevor uns jemand sieht.«
    »Was hast du Hoogens erzählt?«, fragte sie.
    »Nichts. Gar nichts.« Assmuth klang in seiner Ehre gekränkt. Er legte die Hände aufs Wagendach und beugte sich zu ihr hinunter. »Erich ist mein Onkel, verdammt! Und dir hätte ich besser auch nichts gesagt. Woher weiß Hoogens, dass ich mit dir über die Leiche geredet habe?«
    »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, wiegelte sie ab. »Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Hast du irgendeine Ahnung, ob Hoogens und der andere Kommissar Erich noch auf dem Kieker haben?«
    Assmuth riss die Hände vom Wagendach, als wäre es eine heiße Herdplatte. »Hör auf! Ich mache euren Scheiß nicht mehr mit!« Er trat vom Auto zurück und deutete

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