Der Wind bringt den Tod
Sozusagen.«
»Ich weiß.« Er hatte es also durchgezogen: Er war seit seiner Abberufung vom Projekt nicht mehr im Büro erschienen, und mittlerweile hatte ihr Chef ihn wegen Arbeitsverweigerung gefeuert.
»So?« Er lachte amüsiert. »Dann hat es sich wohl schon rumgesprochen, hm? Ich bin so froh, dass ich aus dem Laden raus bin, Jule. Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Schwillmer kann seinen Scheiß in Zukunft allein erledigen. Oder auf irgendwelche seiner treuen Lakaien abwälzen.« Auf ein Schulterzucken folgte eine entschuldigende Geste. »Nichts für ungut. Ist nicht auf dich bezogen.«
Jule winkte ab. Sie war nicht beleidigt. Es lohnte sich nicht, sich die Worte eines Mannes, der so offenkundig neben der Spur war, zu Herzen zu nehmen. Außerdem begann ihr Magen, mit einem Grummeln gegen den Gestank aus dem Aschenbecher, der ihr in der Nase brannte, zu rebellieren. »Vergiss es.«
»Weißt du, was man machen müsste?«, fragte Andreas enthusiastisch. Seine Hand zuckte unter eines der Sofakissen. Als er sie wieder hervorzog, blieb Jule schier das Herz stehen. »Man müsste sie einfach alle abknallen!«
87
Andreas hielt eine Pistole in der Hand – ein Ungetüm aus schwarzem Stahl, deren Mündung Jule gewaltig vorkam.
»Man müsste sie einfach alle abknallen! Die ganze Bande!«, beharrte Andreas auf seinem wahnsinnigen Strategievorschlag. Mit jedem Namen, den er nannte, richtete er den Lauf der Pistole auf ein neues Ziel, das nur er vor Augen hatte. »Schwillmer, Lars vom Controlling, Tim aus dem Produktmanagement, und vor allem Daniela, diese dumme Fotze.« Er äffte Danielas helle Stimme nach. »Ich weiß nicht, ob deine Reisekostenabrechnung so korrekt ist, Andreas.«
Jule saß reglos im Sessel, die Hände um die hölzernen Lehnen gekrallt. Er hatte eine Pistole! Jule spürte ihre Arme leichter werden. Merkwürdig. Sie saß nicht in einem Auto.
Andreas verfiel zurück in ein dunkles Knurren. »Alle überflüssig! Alle abknallen. Entweder das oder die andere Variante.« Er grinste und setzte sich die Waffe an die Schläfe. »Wir sehen uns im nächsten Leben!«
Jule krümmte sich instinktiv zusammen und schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, wie sich sein Hirn auf der nackten Wand hinter ihm verteilte.
Klack.
»Was ist denn los?«, hörte sie ihn besorgt fragen. »Jule, was machst du denn?«
Sie schlug die Augen auf.
Die Pistole ruhte in seinem Schoß. »Denkst du etwa, ich gehe wegen dieser Arschgeigen in den Knast? Oder ich bring mich wegen denen um?« Er lachte ungläubig. »Ich bin doch nicht verrückt.« Er hob den Lauf der Pistole zur Decke und drückte mehrfach den Abzug. Klack. Klack. Klack. »Die ist nicht mal geladen. Ich hab nicht mal Patronen dafür im Haus. Jule, ich mach doch nur Spaß.«
Jule schaute ihn nur an und wartete darauf, dass das Gewicht in ihre Arme zurückkehrte. Vergebens. »Woher hast du die?«
»Mein Vater hat sie gekauft. Von einem Russen. Einem Soldaten. Gleich nach der Wende.« Behutsam, als würde er mit einem Säugling umgehen, deponierte Andreas die Waffe wieder unter dem Sofakissen. »Hast du wirklich gedacht, ich würde jetzt Amok laufen, oder was?«
Inzwischen waren Jules Arme schwer genug, dass sie mit den Schultern zucken konnte. »Na ja, also –«
»Hast du das nie?«, fragte er verblüfft. »Diesen Wunsch, einfach mal jemanden über den Haufen zu ballern, der dir auf die Nerven geht?«
»Doch.« Es war eine ehrliche Antwort. »Manchmal.«
»Siehst du.« Er nickte. »Das ist vollkommen normal.«
Hier war gar nichts normal. Andreas sah weder normal aus, noch roch es in seiner Wohnung normal, und es war schon gar nicht normal, im Jogginganzug auf der Couch zu sitzen und mit einer Pistole herumzufuchteln. Jule war speiübel. Sollte sie gehen? Nein, sie konnte nicht gehen. Sie hatte zu viele Fragen, die niemand außer ihm beantworten konnte. Je schneller sie sie loswurde, desto früher kam sie hier wieder raus. »Wem aus deinem Heimatdorf würdest du es zutrauen, mir eine verstümmelte Puppe in den Wagen zu legen? Samt einem Drohbrief, dass ich aus Odisworth verschwinden soll.«
Andreas riss die Augen weit auf. »Eine Puppe?«
»Eine Barbie.«
»Eine Barbie?« Er brauchte einen Augenblick und einen weiteren Schluck aus einer halb leeren Dose, um diese Nachricht zu verdauen.
»Eine verstümmelte Barbie.«
Einen Moment lang schwieg er, den Blick fest auf den Karton mit den Fotos gerichtet. Dann schaute er auf, aber sein Blick wirkte,
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