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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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sondern vielmehr für eine psychologische Transformation oder einen einschneidenden Wandel im Leben.« Beides war besser als das, was sie zuerst befürchtet hatte.
    Sie packte den kleinen Anhänger aus, den Caro ihr zum Abschied geschenkt hatte. Ein silberner Reif, von dem eine winzige türkis gefärbte Feder baumelte, umschlossen von einem dichten Gespinst aus dünnen Fäden. »Ein Traumfänger«, hatte Caro mit leuchtenden Augen erklärt. Als ob Jule noch nie zuvor in ihrem Leben einen gesehen hätte! »Die amerikanischen Ureinwohner glauben, dass er böse Geister abwehrt. Eigentlich hängt man ihn im Schlafzimmer vors Fenster, aber ich denke mal, er hilft auch bei einer Windschutzscheibe.«
    Jule brachte das alberne Ding am Rückspiegel an. Schaden konnte es nicht. Noch dazu hatte es etwas von einem Ritual, und wie Seger erläutert hatte, brauchte sie Rituale. Ihr Alltag war voll davon: Wenn sie sich die Zähne putzte, fing sie oben links bei den Backenzähnen an und arbeitete sich mithilfe einer festgelegten Zahl von Bürstvorgängen nach rechts unten voran. Sie legte sich jeden Abend die Kleider zurecht, die sie morgens anzog: erst die Socken und die Unterwäsche, dann die Hose und das Oberteil. Nach der Ankunft im Büro trank sie erst einen Kaffee – ein Schuss Milch, zwei Stücke Zucker –, checkte ihre E-Mails und besuchte anschließend in einer fest zementierten Reihenfolge eine Serie von Websites: Spiegel online, die FAZ, das Handelsblatt. Ihr Denken und Handeln in immer gleichen Abläufen zu organisieren, war es, was sie aufrecht hielt und ihr half, einen geregelten Alltag zu führen. Jule schnippte den Traumfänger an, atmete tief durch und machte sich mit dem Cockpit des BMW vertraut. Tacho und Drehzahlmesser glotzten ihr entgegen wie zwei riesige Augen. Dazwischen erstrahlte rot in eckigen Ziffern die aktuelle Uhrzeit. 16:27. Sie hätte ihre Fahrt nach Odisworth vielleicht früher antreten sollen, doch sie hasste es, unvorbereitet in einen Termin zu gehen. Daher hatte sie erst gründlich alles durchgeforstet, was ihr Andreas nach seiner Absetzung als Projektleiter an Daten und Materialien zum Thema Baldursfeld hinterlassen hatte. Ihr Chef hatte recht: Das Projekt steckte in einer Sackgasse, da die nordfriesischen Dorfbewohner sich offenbar vehement gegen jeden Fortschritt stemmten. Aus der 27 wurde eine 28. Um sieben musste sie in Odisworth sein. Kein Grund zur Sorge.
    Sie fasste nach dem Drehknopf in der Mittelkonsole, mit dem sich Navi und Radio bedienen ließen. Noch als sie sich fragte, wie sie die Elektronik zum Leben erwecken konnte, schaltete sich im Armaturenbrett das Display ein. Komfortabel. Sie stellte fest, dass der Klumpen in ihrem Bauch deutlich weicher wurde, während sie die Zieladresse eingab. Das Drehen und Klicken und die prüfenden Blicke zum Display, wo die verschiedenen Menüfenster erschienen, fühlten sich ein wenig so an, als säße sie oben im Büro am Rechner. Trotzdem brauchte sie mehrere Anläufe, bis das Navi die Route berechnete. Es schien fast ein Eigenleben zu haben und immer wieder auf alte Adressen zurückspringen zu wollen.
    »Biegen Sie rechts ab«, sagte schließlich eine kühle, aber nicht unfreundliche Frauenstimme. Schön. Es war, als säße sie nicht allein in diesem monströsen Wunderwerk der Technik. Um dieses positive Gefühl zu verstärken, schaltete Jule auch das Radio ein und suchte nach einem Infosender, in dem rund um die Uhr über dieses oder jenes Thema geredet wurde. Am liebsten hätte sie die Musikfetzen, die mit der Sendersuche verbunden waren, komplett ausgeblendet. Das Gedudel war schlecht. Ein extrem hartnäckiger Teil ihres Gedächtnisses, der für ihre schlimmen Vorwürfe an sich selbst zuständig war, hatte nie aufgegeben, sie daran zu erinnern, dass der Unfall womöglich nicht passiert wäre, wenn sie mehr auf die Straße und weniger auf die Musik geachtet hätte. Jule hatte das Stück nie vergessen, das gelaufen war. Vielleicht auch deshalb, weil sein Titel dem Vorfall zu spotten schien: ›My Immortal‹. Was für ein Schwachsinn. Niemand war unsterblich. Schon gar nicht das Mädchen, das sie voll erwischt hatte und das dann von der Wucht des Aufpralls durch die Luft geschleudert worden war wie eine Lumpenpuppe.
    Jule bediente sich ihres Kniffs mit Daumennagel und Zeigefingerkuppe, um die üblen Gedanken auszutreiben, und seufzte erleichtert, als aus den Lautsprechern endlich keine faden Melodien, sondern der sonore Bariton eines

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