Der Wind bringt den Tod
ab. Sie ertappte sich dabei, wie sie zu dem Gott betete, an den sie seit dem Unfall eigentlich nicht mehr glaubte. Die Schweißausbrüche und die Atemnot gehörten noch zu jenen Manifestationen ihrer Angst, an die sie sich gewöhnen konnte. Sie waren zweifellos unangenehm, aber sie waren rein körperliche Reaktionen und nicht damit zu vergleichen, was die Phobie mit Jules Wahrnehmung anstellte: Je länger sie hinter dem Steuer saß, desto mehr schien ihr Sichtfeld zu schrumpfen. So lange, bis sie irgendwann durch einen endlos langen schwarzen Tunnel zu fahren glaubte. In weiter Ferne – auf einen kreisrunden Ausschnitt zurechtgestutzt – erstreckte sich die Autobahn vor ihr, auf der winzig kleine Fahrzeuge dahinrollten. Ihr gesamter Körper mit Ausnahme des Kopfes verlor ihrem Empfinden nach jegliches Gewicht, sodass sie der unheimliche Eindruck beschlich, sie würde jeden Augenblick davonschweben – durch das Dach des Wagens zur Decke des Tunnels, der nur in ihrem Hirn existierte, und von dort ins Nichts. Das Einzige, was sie auf der Erde zu halten schien, war das leise Knurren des Motors.
Sie konnte von Glück reden, dass sich der BMW beinahe wie von selbst fuhr, als wüsste der Wagen genau, wohin sie wollte. Eine tiefe Dankbarkeit erfasste sie jedes Mal, wenn das Navi sich in seiner ruhigen nüchternen Stimme zu Wort meldete, und sei es nur für ein knappes »Fahren Sie auf die linken Spuren« an einem Autobahnkreuz. Es bot Jule die Gelegenheit, sich als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen, das keinen Defekt aufwies wie sie selbst.
Sie war der Navistimme regelrecht hörig, sehnte die nächsten Anweisungen herbei und schaute so gut wie nie auf das Display. Das hätte ihrer Wunschvorstellung, mit dem Wagen verschmolzen zu sein, nur geschadet. Eine Maschine kannte keine Angst.
Eines vermochte ihr dieses Einswerden allerdings nicht zurückzugeben: die Freude am Fahren. Dabei war sie früher – in einer Vergangenheit, die zu einem anderen Menschen zu gehören schien – gern Auto gefahren. Sie hatte das Spiel von Beschleunigungs- und Bremskräften an ihrem Körper, das sachte Beben des Motors und das feine Zittern des Lenkrads regelrecht genossen. Jetzt wirkte all das auf sie nur noch wie das Vorzeichen einer ausweglosen Katastrophe.
Fürs Erste blieb Jule von diesem Unheil jedoch verschont, und ohne Zwischenfälle brachte sie die Autobahn hinter sich. Sie nahm die Ausfahrt, die ihr das Navi vorgab, und fand sich auf einer schmalen Landstraße wieder. Die Sonne versank als glühende Kugel hinter dem schnurgeraden Horizont. Selbst mit ihrem Tunnelblick konnte sie nicht übersehen, dass sie durch eine jener Gegenden fuhr, für die der Begriff »strukturschwache Region« erfunden worden war. Hier hätte auch unbemerkt vom Rest der Welt eine tödliche Seuche wüten können, so leer gefegt waren die Straßen und Bürgersteige. Und die entgegenkommenden Autos in der nächsten halben Stunde waren an einer Hand abzuzählen. Es war eine Gegend, in der die Zeit stillstand.
Jule machte eine Vollbremsung. Vor einem Wäldchen, zu dem eine lang gestreckte Kurve führte, pulsierten blaue Lichter. Zwei Polizeiwagen standen in einem gehörigen Abstand voneinander quer auf der Fahrbahn und bildeten eine Straßensperre.
Sie gab zaghaft Gas. Der Motor heulte auf, aber der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Es piepste grell. Erschrocken nahm sie den Fuß vom Pedal. Sie starrte hilflos auf das Armaturenbrett und bemerkte, dass dort ein Warnsignal leuchtete. Sie brauchte einen Moment, bis ihr die Bedeutung des Symbols wieder einfiel. Die Handbremse war angezogen. Das konnte nicht sein. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Hatte sie gerade vor lauter Überraschung auch die Handbremse angezogen? Ja. So musste es wohl gewesen sein. Wer hätte sie sonst ziehen sollen? Sie saß schließlich allein im BMW. In der Hoffnung, die Polizei würde sie nicht anhalten und bemerken, wie strapaziert ihr Nervenkostüm war, drehte Jule das Radio leiser, um danach auf die Straßensperre und den Beginn eines Albtraums zuzusteuern.
13
Die Polizisten hatten Besseres zu tun, als Jule anzuhalten. Weiter auf der Landstraße bleiben durfte sie allerdings auch nicht: Ernst winkte einer der Beamten sie mit blinkender Kelle auf einen Waldweg.
Schotter knirschte unter den breiten Reifen ihres Wagens. Sie spielte schon mit dem Gedanken, anzuhalten und den Polizisten zu fragen, ob sie auch nach Odisworth kam, wenn sie der
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