Der Wind bringt den Tod
übertriebene Mitleidsbekundungen oder halb gare Erklärungsversuche vertraute Jule Eva etwas an, worüber sie bislang nur mit einer Handvoll anderer Menschen geredet hatte. Sie beichtete ihr alles über ihre Angst: wo ihr Ursprung lag. Wie sie sich äußerte. Den Umstand, dass sie allein zu schwach gewesen war, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Und sie wagte sogar, von den unheimlichen Begebenheiten zu berichten, die ihr widerfahren waren, seit sie sich gezwungenermaßen nach Jahren wieder hinter das Steuer eines Autos gesetzt hatte. Von der ersten Fahrt nach Odisworth, bei der das Radio und das Navi gesponnen hatten. Von der dunklen Gestalt auf dem Waldweg. Von dem Scheunentor am ausgebrannten Gehöft der Nissens, das sich wie von Geisterhand geschlossen hatte. Vom Klopfen des überfahrenen Kaninchens im Radkasten ihres BMW. Vom Zucken des Lenkrads in ihrer Hand, als sie den Beinaheunfall mit Jonas Plate gehabt hatte. Von den Leichenwagen, die ihr am Freitag bei ihrer Heimreise nach Hamburg plötzlich überall aufgefallen waren. Von der Rauchwolke, wegen der sie eben in einem Acker gelandet war und die es anscheinend nie gegeben hatte.
Nachdem Jule geendet hatte, stand Eva auf und holte ihr ein Glas Wasser aus der Küche. Sie musterte Jule eine Weile, als wollte sie ihr auf den Grund der Seele blicken. Dann fragte sie: »Wissen Sie, was ein Spökenkieker ist?«
Jule war etwas überrumpelt. Meinte Eva das ernst? Sie schüttete ihr das Herz aus, und sie reagierte mit einem Verweis auf einen alten Aberglauben? »Eine Art Hellseher, oder nicht? Glauben Sie an so etwas? Und was hat das mit mir zu tun?«
»Sie haben mir gerade viel erzählt. Jetzt lassen Sie mich Ihnen einmal etwas erzählen.« Evas Stimme war von einem tiefen Ernst durchdrungen. »Mein Großvater war ein Spökenkieker. Er hat nicht gerne darüber geredet. Verständlicherweise. Als er tot war, nahm mich meine Mutter beiseite und berichtete mir von einem Vorfall, der sich zugetragen hatte, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Das war noch vor dem Krieg. Sie waren auf dem Weg in die Kirche und sind einem Freund von ihm begegnet. Sie haben eine Weile über dies und das geplaudert. Über das Wetter, über das Vieh. Dann wurde mein Großvater von einem Moment auf den anderen sehr traurig. Er sagte zu seinem Freund, er solle gut zu seiner Frau sein, weil er sie nicht mehr lange hätte. Der Mann hat nur gelacht. Seine Frau war jung und kerngesund. Drei Tage später war sie tot. Ein Pferd ging durch und trampelte sie nieder. Ein Huf hat sie am Kopf erwischt, mitten im Gesicht. Bei ihrer Beerdigung fragte meine Mutter meinen Großvater, woher er das gewusst hat. Er wand sich, aber sie ließ nicht locker. Schließlich meinte er, an dem Morgen, als sie dem Freund auf dem Weg zur Kirche begegnet sind, hätte er einen Leichenzug die Hauptstraße hinuntergehen sehen und die Frau seines Freundes hätte in dem offenen Sarg gelegen, mit zerschlagenem Gesicht. Ich weiß, was Sie denken, Jule. Sie denken, das war Zufall. Zufall und Einbildung.«
Eva hatte recht. Das änderte jedoch nichts daran, dass sich die Härchen an Jules Armen kerzengerade aufgerichtet hatten. Oder daran, dass Jule jeden Eid geschworen hätte, die Schatten in den Ecken des Wohnzimmers wären dunkler geworden. Nur Zufall. Nur Einbildung. Mehr nicht.
»Ich habe viele solcher Geschichten über meinen Großvater gehört«, fuhr Eva fort. »Und wenn ich nur Geschichten gehört hätte, würde ich vielleicht genauso denken wie Sie. Aber ich habe diese Geschichten nicht nur gehört. Ich bin bei einer dabei gewesen. Da war er schon ein alter Mann, über die Neunzig und das, was man zu der Zeit verkalkt nannte. Er wohnte hier in diesem Haus in dem kleinen Zimmer, das von der Küche abgeht und heute meine Abstellkammer ist. Ich habe ihn immer gefüttert, weil er den Löffel nicht mehr halten konnte. Eines Abends im Herbst wollte er nicht essen. Er saß einfach nur in seinem Bett und schaute aus dem Fenster, hinüber zum Nachbarhof. Dann lachte er plötzlich. Ich fragte ihn, was er so lustig findet. Er sagte, er würde sich nur fragen, wie weit die brennende Sau wohl noch kommt. Ich habe mir damals nicht viel dabei gedacht, trotz der Gerüchte, die im Dorf über ihn umgingen. Wie gesagt, er war alt und senil. Außerdem hatte unser Nachbar nicht einmal einen Schweinestall. Er hat ihn erst Jahre später gebaut, als mein Großvater schon lange unter der Erde war. Und dann kam der Tag,
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