Der Wind bringt den Tod
jemanden aus dem Dorf zu verraten. Und für die Drohung eben hatte sie ja nicht einmal Zeugen. Jannsen hatte die Sache ziemlich geschickt eingefädelt. Es war zum Verrücktwerden.
Jule stellte das Radio lauter und lauschte einer energischen Soziologin, die sich darüber beklagte, dass sich die Prinzipien der Aufklärung in der westlichen Welt nur unzureichend durchgesetzt hätten. Allein in Deutschland würden zwei Drittel der Bevölkerung an die Existenz von Schutzengeln glauben.
Jule lenkte den Wagen durch eine weit gezogene Kurve. Sie gehörte nicht zu den genannten zwei Dritteln. Schon seit ihrem Unfall mit der Fahrradkurierin nicht mehr. Nicht, dass sie davor je ernsthaft an eine schützende Macht geglaubt hätte, aber spätestens seit diesem Tag glaubte sie an gar nichts mehr.
In der Ferne schob sich das Wäldchen, in dem der Mörder eines seiner Opfer verscharrt hatte, über den Horizont. Jule stockte der Atem. Eine pechschwarze Rauchwolke wallte über die Wipfel der Bäume. Dichter wabernder Qualm. Das Feuer, das ihn ausspie, musste verheerend sein.
Der Wagen ruckelte heftig. Jules Blick huschte zurück auf die Fahrbahn. Vor Jule lag ein brachliegendes Feld. Verdammt! Sie hatte die nächste Kurve verpasst! Sie trat auf die Bremse.
Zu spät.
Sie hatte keine Zeit mehr, um echte Angst zu empfinden. Das Auto raste über die flache Böschung, die den Acker von der Straße trennte.
Die Kühlerhaube schien ihr ein Stück entgegenzukommen, als sich die Vorderräder vom Boden lösten. Schon schoss auch die Hinterachse über die Rampe. Der BMW flog einige Meter durch die Luft.
Er landete hart und leicht nach links geneigt, wühlte sich ein wenig voran, und erst dann berührten auch die Reifen auf der anderen Seite wieder den Boden. Jule wurde in ihrem Sitz durchgeschüttelt und spürte das Wagendach über ihre Haare streifen.
Der BMW schlitterte über den Acker. Die Welt ringsum wirbelte an Jule vorbei, als sich das Auto einmal komplett um die eigene Achse drehte. Jule wurde von den Fliehkräften zur Seite gedrückt. Ihr Kopf schlug gegen die Seitenscheibe. Einen Sekundenbruchteil wurde ihr schwarz vor Augen. Dann setzte ein pochender Schmerz in ihrer Stirn ein, und sie war wieder bei sich. Gurgelnd erstarb der Motor. Staub senkte sich als rieselnder Schleier auf die Windschutzscheibe.
Jules Herz wummerte wie ein Dampfhammer. Sie wartete darauf, dass ihre Angst über sie herfiel, doch sie kam nicht. Jule fasste zaghaft an ihre Stirn. Blutete sie? Nein. Sie spürte keine Nässe. Um sicherzugehen, stemmte sie sich ein Stück aus dem Sitz und schaute in den Rückspiegel. Sie sah kein Blut.
In der äußersten rechten Ecke des Spiegels bemerkte Jule das Wäldchen. Nein! Das konnte nicht sein! Jule blinzelte, aber das Bild im Spiegel veränderte sich nicht: Der Himmel über den Bäumen des Wäldchens war blau und wolkenlos, als hätte es die schwarze Rauchwolke darüber nie gegeben.
104
»Mein Gott, Jule.« Eva Jepsen musste beim Spülen gewesen sein, als Jule an der Tür geklingelt hatte. Sie hatte ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen und roch nach Lavendel und Zitrone. »Sie sind ja kreidebleich. Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Jule trat in den Flur und legte eine Hand auf das Treppengeländer. Sie hatte sich eigentlich auf ihrem Zimmer verkriechen wollen, doch jetzt verspürte sie das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden. In ihrem Kopf hatte sich eine wahre Flut von Worten und Sätzen aufgestaut, die unbedingt aus ihrem Schädel herausmussten, damit er nicht sofort platzte. Zwei Dinge erleichterten ihr es, Trost und Hilfe bei Eva zu suchen: die Besorgnis auf Evas Gesicht und die Tatsache, dass Evas Haus dem von ihrer Großmutter so ähnlich war. »Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich?«
Eva nahm sie bei der Hand und zog sie wortlos durch die Tür ins Wohnzimmer. Jule fand sich auf der Couch wieder, Evas warmen Arm um die Schultern. »Sagen Sie mir, was los ist.«
Und Jule redete. Ununterbrochen, fast eine halbe Stunde lang. Sie begann mit ihrer allgemeinen Verzweiflung über die Bockigkeit der Odisworther.
Sie erzählte von der Woge der Ablehnung, die ihr von allen Seiten entgegenschlug. Von dem immensen Druck, unter dem sie stand. Und von ihrer Befürchtung, dass der ohnehin dünne Geduldsfaden ihres Chefs bald reißen würde.
Eva hörte schweigend, aber mit aufmerksamer Miene zu. Nur wegen dieser Zurückhaltung und dieses Verzichts auf
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