Der Wind bringt den Tod
an dem der Schweinestall unseres Nachbarn in Flammen stand und ein brennendes Schwein quer über den Hof rannte. Verstehen Sie jetzt, warum ich an Spökenkieker glaube?«
Jule fröstelte. Sie presste die Arme enger an ihren Körper. Fast war ihr, als läge der Geruch von verbranntem Haar in der Luft. »Sie haben mir immer noch nicht erzählt, was das mit mir zu tun hat.«
»Es gibt viele Legenden darüber, wie man zum Spökenkieker wird«, erwiderte Eva. »Manche meinen, es wäre eine Gabe, die innerhalb bestimmter Familien vererbt wird. Andere sagen, man müsste einen ganz besonderen Blick auf die Welt haben. Dass man ein wenig verrückt sein müsste. Und dann sind da noch die, laut denen man selbst dem Tod und dem Unheil gegenübergestanden haben muss, um die Vorzeichen zu erkennen.«
Eine Eiseskälte kroch Jules Beine hinauf. Sie hörte das Knirschen von Schritten auf gefrorenem Schnee. Ihre Schritte, als sie nach dem Unfall, der ihr bis dahin so unbeschwertes Leben in Scherben geschlagen hatte, aus dem Auto gestiegen war.
»Mein Großvater hatte zwei ältere und einen jüngeren Bruder. Einen Nachzügler namens Eike«, setzte Eva an. »Als er elf Jahre alt war, wollte er Eike das Schwimmen beibringen. Eike war fünf und hatte panische Angst vor Wasser. Von all seinen Geschwistern vertraute Eike nur meinem Großvater so weit, dass er mit ihm wenigstens bis zu den Knien ins Wasser ging. Irgendwann stiegen mein Großvater und Eike in ein Boot. Sie sind mit einem alten Kahn auf einen Weiher hinausgefahren. Mein Großvater hat Eike einen Strick um den Bauch gebunden, und wegen des Stricks fühlte sich Eike sicher. Er sprang ins Wasser. Doch es war nicht nur ein alter Kahn, sondern auch ein alter Strick. Ein morsches Ding, das sofort riss. Eike ging unter wie ein Stein. Mein Großvater konnte nichts dafür, dass sein Bruder ertrank. Es ist einfach passiert, so wie manche Sachen eben einfach passieren, ob wir es wollen oder nicht.«
Als die Kälte ihr Herz erreichte, begriff Jule, was Eva ihr sagen wollte. »Sie meinen, ich wäre eine Spökenkiekerin.«
»Ich meine nur, dass Sie das, was Sie erlebt haben, besser verkraften, wenn Sie nicht so viel Angst davor haben und wenn Sie verstehen, dass Sie damit nicht allein sind«, gab Eva zurück. »Und ich meine, dass sich nicht alles restlos oder logisch erklären lässt, was uns in unserem Leben widerfährt.«
105
Jule trank ihr Wasser aus und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Eva hatte genau das richtige Stichwort geliefert: logisch. Jule war nicht Caro. Caro würde sich an ihrer Stelle wohl mit der metaphysischen Erklärung arrangieren, die Eva für die zurückliegenden Ereignisse geliefert hatte. Jule gab sich damit nicht zufrieden. Es kam ihr viel zu simpel vor, eine vermeintliche übersinnliche Lösung für ihre Probleme zu akzeptieren. Noch dazu hatte sie im Verlauf ihrer Therapie gelernt, ihre psychische Verfassung einzuschätzen. »Machen wir uns nichts vor, Eva«, sagte sie. »Ich stehe momentan unter immensem Stress, und ich weiß sehr genau, was das mit mir anstellen kann.«
Eva sah sie beinahe mitleidig an. »Sie denken also wirklich immer noch, Sie hätten sich das alles nur eingebildet.«
Jule nickte langsam. Sie war eigentlich immer stolz auf ihre Fähigkeit gewesen, die Dinge realistisch zu betrachten. Sie versuchte, den Moment auszumachen, an dem ihr heute Nachmittag die Kontrolle über sich und den Wagen entglitten war. »Es stimmt ja, dass ich diese Rauchwolke über dem Wäldchen aufsteigen gesehen habe. Und es stimmt auch, dass der Rauch nicht mehr da war, als ich im Acker stand. Das bedeutet für mich aber noch lange nicht, dass hier Geister und hellseherische Vorahnungen oder irgendein anderer Spuk im Spiel sind.«
»Und was soll es sonst gewesen sein?« Eva schüttelte den Kopf. »Wie wollen Sie sich das sonst erklären?«
»Mein Therapeut hat mir dargelegt, dass es für meine Sinnestäuschungen wahrscheinlich immer ganz konkrete Auslöser gibt.« Jule war Seger damals sehr dankbar gewesen, dass er nicht den Begriff Halluzinationen verwendet hatte. »Mein Unterbewusstsein funktioniert wie eine Antenne, die ständig Signale aus ihrer Umgebung empfängt. Diese Signale schiebt es in eine Art Zwischenspeicher ab.«
»Wie bei einem Computer?« Eva schob skeptisch die Unterlippe vor. »Wir sind doch keine Maschinen.«
»Wenn meine psychische Belastung zu groß ist«, fuhr Jule unbeirrt fort, »ruft mein Unterbewusstsein diese abgelegten
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