Der Wind bringt den Tod
Vergewaltigung gewesen wären. Manchmal nässte sie sich ein, wenn sie das seifige Wasser getrunken hatte. Dann wusch er sie sorgsam mit warmem Wasser und einem weichen Lappen. Er spreizte ihre Beine mit großer Vorsicht, als wollte er ihr auf keinen Fall wehtun. Er ging akribisch vor, immer nach demselben Muster.
Sein Festhalten an einer Routine fügte sich auf irrsinnige Weise in die starre Unwandelbarkeit ihrer Umgebung. Es war immer hell. Es war immer kalt. Nur eine Sache veränderte sich: Nach dem Schlaf, den das seifige Wasser brachte, hatte sie jedes Mal etwas anderes an. Mal einen Bikini, mal einen Hosenanzug, mal einen Pelzmantel, mal Jogginghosen und Kapuzenpulli. Er nutzte die Zeit, die ihr fehlte, um sie an- und auszuziehen. Und um sie zu schminken.
Er hielt ihr nach dem Erwachen einen Spiegel vors Gesicht und fragte sie: »Schön genug?«
Sie hörte ein Rascheln und gedämpfte Schritte. Sein Schatten fiel auf sie. Er summte ein Lied. Dasselbe Lied, das sie hörte, wenn er nicht da war. Ein lautes, grelles Lied. Er kauerte sich ans andere Ende der Liege, wohin sie nicht richtig sehen konnte.
Sie zuckte zusammen, als er ihren Fuß berührte. Sie spürte einen heftigen Druck gegen ihre Zehen, als würde etwas darübergestülpt. Aus dem Druck wurde ein dumpfer Schmerz.
Sie wimmerte.
Der Schmerz hörte schlagartig auf.
»Schade«, hörte sie ihn sagen. Er drehte sich zu ihr um. »Du hast zu große Füße. Dagegen müssen wir etwas tun.«
128
»Machen wir’s kurz. Das Projekt Baldursfeld steht meiner persönlichen Einschätzung nach unmittelbar vor dem Scheitern.«
»Wenn du das so sehen willst, bitte«, sagte Jule in die Pause nach Schwillmers dramatischer Eröffnung hinein. »Du bist der Chef. Du triffst die Entscheidungen.«
»Haargenau.« Schwillmer legte die Fingerspitzen zu einer kleinen Pyramide aneinander. »Und meine neueste Entscheidung lautet wie folgt: Morgen um drei bekommst du deine allerletzte Chance, den Karren noch aus dem Dreck zu ziehen. Bleibt der Karren stecken, sollten wir uns am Montag über eine mögliche Aufhebung deines Arbeitsverhältnisses unterhalten.«
Jule blieb ruhig. Erstaunlicherweise verspürte sie nicht einmal den Drang, sich ans Ohrläppchen zu fassen oder den Ring an ihrem Finger zu drehen. Schwillmer mochte sich für einen knallharten Hund halten, aber neben dem Mann, in dessen Fadenkreuz sich Jule bewegte, verblassten seine Drohgebärden. Schwillmer würde ihr eventuell kündigen. Und weiter? Im Vergleich zu dem, was in Odisworth gerade passierte, war eine Kündigung ein unbedeutender Witz. »Was ist morgen um drei?«
»Ich habe gestern Abend noch mit Mangels telefoniert und ihm ordentlich Feuer unterm Hintern gemacht«, erklärte Schwillmer im Ton des zufriedenen Alphamännchens. »Morgen um drei findet eine außerordentliche Sitzung des Odisworther Gemeinderats zum Thema Baldursfeld statt. Du wirst dabei sein und diesen verdammten Bauern erklären, dass wir unsere Windräder definitiv woanders aufstellen, falls wir am Ende dieser Sitzung keine Zusage von ihnen haben.«
»Das ist meine Verhandlungsposition?«, wollte Jule wissen.
»Schau mich an.« Schwillmer bleckte die Zähne. »Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«
129
Jule überdachte ihre Lage bei einer Tasse Kaffee und einem Crêpe in einem bretonischen Restaurant, das im umgebauten Souterraingeschoss eines entkernten Altbaus untergebracht war. Vielleicht sollte sie selbst gleich heute noch die Kündigung einreichen. Dann würde sie überhaupt nicht mehr nach Odisworth fahren müssen. Die Idee war verlockend. Schwillmer hatte sie für das Gespräch mit dem Gemeinderat in eine nahezu aussichtslose Lage gezwungen. Jule war sicher, dass sie die Odisworther noch innerhalb eines vertretbaren Zeitrahmens vom Windpark hätte überzeugen können – aber eben auf ihre Art. Der plötzliche Strategiewechsel, den Schwillmer ohne jede Abstimmung mit ihr in Gang gesetzt hatte, würde hingegen nur dazu führen, dass sie sich im Gemeinderat bis auf die Knochen blamierte.
Jule war so tief in Gedanken versunken, dass sie das Klingeln ihres Smartphones erst nach einem Zeitungsrascheln und einem genervten Gemurmel vom Nebentisch bemerkte. Sie ging ran, ohne vorher auf das Display zu schauen. Es war Klaus.
»Was kann ich für dich tun?«, erkundigte sich Jule. Sie bereute ihren groben Unterton sofort. Klaus hatte keinen Groll verdient.
»Sascha hat gesagt, du wärst heute Morgen kurz im Büro
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