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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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was das Schicksal ihr entgegensetzte, stand sie auf und verließ das Haus, ohne den Jepsens Auf Wiedersehen zu sagen.

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    Während sich Jule über Stellingen und Langenfelde dem Schanzenviertel näherte, dachte sie an ihr kleines Ritual in der Pension zurück. Sie hatte ihr Rollköfferchen einmal komplett gepackt, nur um gleich danach alles – ihre Kleidung, ihre Duschsachen, ihr Schminkzeug, ihren Frauenroman – wieder an die Plätze zurückzuräumen, die sie in ihrem Zimmer dafür seit ihrer ersten Nacht auserkoren hatte. Einem Außenstehenden wäre es bestenfalls albern oder merkwürdig, schlimmstenfalls zwanghaft oder verrückt erschienen. Für Jule war es eine einfache Methode, sich zu vergewissern, dass sie wirklich fest entschlossen war, ihren Auftrag in Odisworth erfolgreich abzuschließen.
    Beim Einsteigen ins Auto war sie immer noch den Tränen nahe gewesen. Die Frau, die sie noch vor etwas mehr als einer Woche gewesen war, hätte es nicht fertiggebracht, den Wagen zu starten, solange noch alles vor ihren Augen verschwamm. Die neue Jule rief sich ihr Mantra gegen die Angst nur kurz ins Gedächtnis und fuhr los.
    Jule konnte sich nicht entscheiden, was der Grund für die erfreuliche Gleichgültigkeit war, mit der sie ihrer Fahrt nach Hamburg begegnete. Es war fast, als gehörten die lähmende Furcht, die Wahrnehmungsverzerrungen, die Schweißausbrüche, das Herzrasen und die Atemnot nicht zu ihr, sondern zu einer anderen Person. Vielleicht war diese Veränderung dem Experiment zu verdanken, das Rolf mit ihr unternommen hatte – dem blinden Vertrauen in die Effizienz einer seelenlosen Maschine und zugleich in die Hände eines Mannes, der sie begehrte. Rational betrachtet war es aber wohl eher so, dass eine Kernaussage ihres Therapeuten nun endlich bestätigt worden und in ihr Unterbewusstsein eingesickert war: Es gab Dinge, die sie nicht ändern konnte. Dinge, auf die sie keinen Einfluss hatte. Dinge, für die sie keine Verantwortung zu übernehmen brauchte. Solange sie sich an die Regeln hielt, die in der Straßenverkehrsordnung für vorausschauendes, rücksichtsvolles Fahren festgelegt waren, erfüllte sie auch schon alle Voraussetzungen, die sie überhaupt erfüllen konnte. Alles Weitere lag nicht in ihrer Hand.
    Sie dachte wieder an den Schmetterling. Wäre es sinnvoll gewesen, allen Schmetterlingen die Flügel auszureißen, nur um einen etwaigen Sturm am anderen Ende der Welt zu verhindern? Vor allem, wenn niemand wissen konnte, welchen anderen, potenziell ebenso verheerenden Effekt das womöglich auslöste? Nein, man musste den Schmetterlingen ihre Flügel lassen. Man musste sich der Einsicht stellen, dass jede Ordnung, die man inmitten des Chaos errichtete, letztlich nur dem Zweck diente, überhaupt zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Alternative wäre das gewesen, was sie über Jahre hinweg durchgemacht hatte: sich aus der Angst heraus in eine Ohnmacht zu flüchten. Doch von jetzt an würde das nicht mehr passieren.

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    Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war sie schon in seiner Gewalt? Wie lange war sie schon hier an diese Liege gefesselt?
    Ihr Rücken fühlte sich wund an, als wäre ihr vom Nacken bis zum Steiß mit Schmirgelpapier die Haut abgerieben worden. Ihr ganzes Gesicht brannte wie Feuer, und in der Mitte ihres Körpers klaffte ein Loch aus Schmerz.
    Er gab ihr nichts zu essen. Nur Wasser aus einer Plastikflasche mit Sportverschluss. Wenn sie daran saugte, fühlte sie sich hilflos wie ein Baby. Manchmal schmeckte das Wasser seifig. Dann wurde sie müde, und ihr fehlten Minuten, Stunden oder Tage, bis sie halbwegs wieder bei sich war. Oft konnte sie sich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Das waren die schlimmsten Augenblicke. Ohne ihren Namen und ihre Erinnerung war sie nichts, und dann war alles möglich. Vielleicht hatte sie es sogar verdient, hier zu sein?
    Irgendwann hatte sie aufgehört zu schreien. Nicht nur, weil ihre Kehle zu einem blutigen Strang geworden war. Niemand hörte sie schreien. Nicht einmal er reagierte darauf.
    Sie hatte alles versucht.
    Sie hatte gebettelt, er solle sie doch gehen lassen.
    Sie hatte ihn angefleht, ihr wenigstens zu erzählen, warum er das tat.
    Sie hatte ihm gesagt, dass bestimmt schon jemand nach ihr suchte und er alles nur noch schlimmer machte.
    Er war stumm geblieben.
    Er war nicht brutal zu ihr. Er behandelte sie mit einer beiläufigen Sanftheit, die noch erschreckender war, als es Schläge oder eine

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