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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Wohnungstür.
    »Und jetzt?«, fragte Klaus. »Wie kommen wir rein? Oder hast du auch den Haustürschlüssel?«
    »Nein. Brauche ich auch nicht.«
    Sie fuhr einmal mit der flachen Hand über sämtliche acht Klingeln.
    »Die Post«, antwortete sie mit fröhlicher Stimme auf das erste »Ja?« aus der Gegensprechanlage.
    Der Türöffner summte.
    Sie nahmen die Treppen in die erste Etage, sie forsch, Klaus in der Manier eines Schuljungen, der sich von seinen Klassenkameraden in einen üblen Streich gegen den Lehrer hatte hineinziehen lassen.
    Jule bekam erst ein wenig Angst vor ihrer eigenen Courage, als sie vor der Wohnungstür stand und den Schlüssel in das Schloss steckte. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie nur das tat, was Andreas von ihr erwartete.
    Noch auf dem Flur rümpfte Klaus die Nase. »Was ist denn das?«
    Aus Andreas’ Wohnung drang ein sonderbarer Geruch. Es war nicht der stechende Gestank von verbrannten Fotos, der Jule beim letzten Mal Übelkeit bereitet hatte. Er erinnerte Jule eher an süßsaures Schweinefleisch, das man ein paar Tage zu lang in einem offenen Behältnis im Kühlschrank stehen gehabt hatte.
    »Andreas?«, rief sie in die Wohnung hinein. »Ich bin’s. Jule. Ich habe Klaus mitgebracht.«
    Sie betrat das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer. Ihre Kehle schnürte sich zu. Der Karton mit den Fotos, der Aschenbecher und das Feuerzeug waren vom Tisch verschwunden. Jule wünschte sich, sie wären nicht durch die Gegenstände ersetzt worden, die nun da lagen.
    Das Harmloseste war ein aufgeschlagener Collegeblock, die karierten Seiten eng beschrieben. Daneben lag ein Stift – einer der dünnen sechseckigen von Schwan-Stabilo. Er wies heftige Kauspuren auf, als wäre er einem ungezogenen Hund ins Maul geraten. Eine große Haushaltsschere mit schwarzen Plastikgriffen war in die Tischplatte gerammt. Die eine Hälfte der Red-Bull-Dose, die mithilfe der Schere in der Mitte entzweigeschnitten worden sein musste, war an eine Ecke des Tisches gerollt. Die andere stand aufrecht neben dem Collegeblock. Ihre scharfen Ränder waren von einer rotbraunen Schicht überzogen. Man hätte sie für Rost halten können, wenn da nicht zwei dünne Spuren in derselben Farbe gewesen wären, die vom Tisch weg zu Jules Füßen führten.
    Jules Beine wurden steif und kraftlos. Sie schaffte es noch, sich langsam zu Klaus umzudrehen. »Ruf die Polizei«, flüsterte sie heiser.
    »Was?« Sein gewaltiger Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er schwer schluckte. »Die Polizei? Was?«
    »110«, sagte sie abwesend. Mit staksenden Schritten folgte sie den rotbraunen Spuren wie einem Faden durch ein Labyrinth zu einer geschlossenen, unschuldig weißen Tür. Sie wusste, dass sie besser auf die Polizei warten sollte, konnte aber nicht anders. Sie musste auf der Stelle wissen, was sich in diesem Raum verbarg. Sie legte die Hand auf die kühle Klinke, zählte stumm bis drei und öffnete die Tür.
    Andreas hing von einem Haken an der Decke. Er trug noch dasselbe T-Shirt und dieselbe Jogginghose, nur dass beide Kleidungsstücke jetzt von eingetrockneten Blutspritzern gesprenkelt waren. Seine nackten Unterarme waren von Schnitten und Kratzern übersät, als hätte er versucht, sich in fremdartigen Schriftzeichen eine Botschaft in die Haut zu ritzen. Das schwarze Kabel, das er als Schlinge benutzt hatte, war zwischen dem aufgedunsenen Fleisch an seinem Hals beinahe nicht mehr zu erkennen. Seine Zunge war ihm als unförmiger bläulicher Brocken über die Lippen gequollen. Fliegen schwirrten emsig um den verfaulenden Muskel auf der Suche nach einem guten Platz, um ihre Eier zu legen. Sein linkes Auge war offen, und eines der schillernden Insekten landete auf dem ausgetrockneten Weiß.
    Zuerst hielt Jules Fassung selbst diesem furchtbaren Anblick tapfer stand. Sie hatte schließlich schon vor vielen Jahren das frische Blut einer Sterbenden gesehen, vergossen auf Eis und Schnee. Sie war schon dabei gewesen, wie ein Mensch seinen letzten röchelnden Atemzug getan hatte. Sie war schon zur Komplizin, zur stummen Handlangerin des Todes geworden. Aber all diese Erfahrungen genügten nicht, um sie gegen dieses neue Grauen zu wappnen. Sie spürte den Luftzug durch die geöffnete Wohnungstür an ihren Waden streichen. Er erreichte zielsicher die Leiche, die sachte zu baumeln begann.
    Einen Sekundenbruchteil lang war Jule überzeugt, Andreas nicke ihr wissend zu. Sie antwortete ihm mit einem gellenden Schrei.

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    »Ich bin ein

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