Der Wind bringt den Tod
Ermittlungen auftauchte, spuckte das Netz so gut wie nichts über ihn aus. Allein ein Bild in schlechter Auflösung war von Interesse: Es war bei einem im Husumer Schloss ausgerichteten Polizeiball entstanden und zeigte einen fünf oder sechs Jahre jüngeren Smolski im Kreise seiner Kollegen, die wie er für diesen Anlass Anzug und Krawatte trugen. Die meisten Polizisten fühlten sich ohne ihre Uniform sichtlich unwohl, wohingegen Smolskis Lächeln ehrlich und entspannt wirkte. Er hatte auch einen guten Grund dazu: Im Arm hielt er eine Frau, die ihn auf ihren hochhackigen Schuhen um ein paar Zentimeter überragte und deren Zähne fast so weiß strahlten wie ihr schulterfreies Kleid.
Jule studierte das Bild minutenlang. Einerseits war es gut zu wissen, dass sie anscheinend haargenau in Smolskis Beuteschema passte. Andererseits stellte sich die Frage, mit wem er auf diesem Ball erschienen war. War das seine Freundin? Seine Frau? Nur eine gute Bekannte, die eingesprungen war, weil er sich ohne weibliche Begleitung schlecht hätte sehen lassen können? Es tröstete Jule, dass Frau Jepsen behauptet hatte, Smolski wäre noch zu haben.
Eines jedoch dämpfte Jules Zuversicht: Ihre Chancen, Smolski überhaupt noch einmal zu sehen, waren untrennbar mit den Ermittlungen an dem laufenden Fall verknüpft. Sobald der Mord erst einmal aufgeklärt war, würde er aus Odisworth verschwinden.
Jule las auf den Sites einiger größerer Tageszeitungen den derzeitigen Stand der Ermittlungen nach. Wie es aussah, würde Smolski noch einige Zeit in Odisworth bleiben. Das beruhigte sie. In jeder anderen Hinsicht wuchs ihr Unbehagen: Der Mörder war noch immer unerkannt und auf freiem Fuß. Es hatte die große Stunde der Forensiker geschlagen, um die Identität der Toten festzustellen. Der Abgleich zwischen den Ergebnissen der vielen nicht näher genannten Untersuchungen, die die Kriminologen derzeit anstellten, und den Einträgen in den Datenbanken für vermisste Personen, würde nach Einschätzung der Experten noch einige Tage dauern. Dass es also eigentlich nichts Neues zu melden gab, hielt die Boulevardpresse nicht davon ab, die Berichterstattung ununterbrochen fortzusetzen.
Immerhin konnte Mangels sich freuen, denn Jule stieß auf mehrere Kurzfeatures, die zwar mit »Dorf des Grauens«, »Das Horror-Dorf« oder »Wo der Tod lauert« betitelt waren, sich dann aber doch eher wie Werbetexte lasen, die man beim örtlichen Touristikbüro abgeschrieben hatte. Unentwegt betonten die Schreiberlinge »die verwunschene Landschaft«, »das perfekte Idyll« und »die Atmosphäre wie aus dem Bilderbuch«.
Letzten Endes verblasste der Schauplatz in der öffentlichen Wahrnehmung aber vor der eigentlichen Tat, über die pietätlos spekuliert wurde: Die Zeitungen wussten mal von nicht näher genannten Verstümmelungen der Frauenleiche, mal stellten sie Mutmaßungen über ein »heidnisches Ritual« an, da man in den Zwanzigerjahren einmal ein Hügelgrab auf Odisworther Gemarkung entdeckt hatte.
Je länger sie über den Mord las, desto unwohler wurde Jule. Sie ertappte sich dabei, wie sie nach Schritten im Treppenhaus lauschte. Sie fuhr zusammen, wenn unten auf der Straße eine Autotür zugeschlagen wurde. Obwohl sie alle Lichter in ihrer Wohnung eingeschaltet hatte, sah sie aus jeder Ecke dunkle Schatten auf sich zukommen. Sie machte den Fernseher an. Das monotone Gemurmel von Nachrichtensprechern beruhigte sie meistens, und es funktionierte auch diesmal. Bevor sie ins Bett ging, schloss sie die Wohnungstür trotzdem zweimal ab und ließ den Schlüssel stecken. Und sie tat etwas, was sie zuvor noch nie getan hatte: Sie holte ein Brotmesser aus der Küche und legte es auf den Nachttisch.
33
»Hallo?«, meldete sich Jule schlaftrunken, nachdem sie aus dem Schlafzimmer in den Flur zur Basisstation ihres Telefons gewankt war.
»Jule?«, fragte sie ein Mann, dessen Stimme ihr sehr vertraut war, obwohl sie sie noch nie so voller Zweifel und so zögerlich gehört hatte.
»Ja?«
»Lothar Seger hier.«
»Wissen Sie, wie spät es ist?« Er mochte ihr Therapeut sein, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, sie mitten in der Nacht anzurufen.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals die späte Störung. Oder die frühe Störung, je nachdem, wie Sie es sehen wollen.« Mit jedem Wort kehrte mehr von der Zielstrebigkeit in seine Stimme zurück, für die sie ihn insgeheim bewunderte. »Ich wollte mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen.«
»Und das konnte
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