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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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hatte, um an der Landstraße zu markieren, wo die Leiche lag. Mehr wussten sie nicht. Fingerabdrücke waren auch keine auf der Tüte.
    Hoogens hatte sich die Fotos angesehen, die Marko Assmuth, ein weiterer Kollege von der Schutzpolizei, bei der Erstbegehung des Fundorts mit einer Digitalkamera gemacht hatte. Beim Sicherungsangriff, wie es im Fachjargon hieß. Die Erde, unter der die Leiche verborgen lag, war großflächig aufgewühlt gewesen – wie von einem Tier oder einem Menschen mit bloßen Händen umgegraben. Dabei waren Teile des Schädels freigelegt und der Brautschleier, mit dem das Gesicht der Toten verhüllt gewesen sein musste, beiseitegezerrt worden.
    Aus welchem Grund wollte der Anrufer anonym bleiben? Was hatte er zu verbergen? Hatte er überhaupt etwas zu verbergen oder einfach nur Angst, in eine Sache hineingezogen zu werden, mit der er lieber nichts zu tun haben wollte? Warum hatte er den Fundort penibel von Fußabdrücken und anderen Spuren gesäubert, bevor er die Polizei gerufen hatte? Denn das musste er getan haben: Auf der feuchten Erde hatte man keinerlei Fußabdrücke entdeckt, nicht einmal Spuren von Tieren waren zu finden gewesen. Hoogens vollführte eine weitere Drehung, um die Umgebung in sich aufzunehmen – und erstarrte.
    »Halt!«, rief er. Er zog seine Walther P99 und richtete den kurzen Lauf der Waffe in die Richtung, in der er eben einen schwarzen Schemen hinter einen Baumstamm hatte huschen sehen.
    Er hörte das Knacken von Ästen und das Stampfen schneller Schritte auf dem Waldboden.
    »Halt! Polizei! Stehen bleiben!«
    Er nahm die Verfolgung auf. Er musste sich nur auf den ersten Metern auf sein Gehör verlassen. Dann sah er den Mann im schwarzen Kapuzenpulli, der vor ihm flüchtete.
    Der Kerl – groß und breitschultrig – legte ein gutes Tempo vor, und schlug immer wieder Haken, um Baumstümpfen oder schlammigen Pfützen auszuweichen.
    Hoogens war klar im Nachteil. Mal glitt er fast aus, mal blieb sein Fuß an einer Wurzel hängen, und er verlor wertvolle Sekunden. So wurde das nichts. Er feuerte einen Warnschuss in die Luft ab, und zu seiner Überraschung rannte der Flüchtende nicht weiter, sondern warf sich der Länge nach zu Boden und schlang schützend die Hände um seinen Kopf.
    »Nicht schießen, nicht schießen!«, bettelte er in einer absurd hohen Stimme, als sich Hoogens ihm mit der Pistole im Anschlag näherte.
    »Umdrehen!«, herrschte Hoogens ihn an. »Die Arme zur Seite runter!«
    Der Mann gehorchte, und Hoogens verschlug es einen Augenblick die Sprache. Trotz seiner beeindruckenden Größe hatte der Kerl, der vor ihm auf dem Boden lag, keinen erkennbaren Bartwuchs und überhaupt die weichen Gesichtszüge eines Jungen, der noch ein ganzes Stück davon entfernt war, zum Mann zu reifen. Verdammt. Das war ein Kind.
    »Wie heißt du?«, fragte Hoogens.
    »Jonas.«
    »Und wie noch?«
    »Jonas Plate.«
    »Wie alt bist du?«
    »Vierzehn«, antwortete ihm der Junge mit weit aufgerissenen Augen.
    »Scheiße«, murmelte Hoogens. Für sein Alter war der Junge ein ganz schöner Brocken. »Steh auf.«
    Als Jonas sich endlich aufgerappelt hatte, überragte er Hoogens um einen halben Kopf, und er wirkte noch größer, weil er die Hände sofort hob.
    »Lass das«, befahl ihm Hoogens.
    Jonas nahm die langen Arme wieder herunter.
    Hoogens steckte seine Waffe weg. Vierzehnjährige Frauenmörder passten nicht einmal in sein zynisches Weltbild, und außerdem bebten Jonas’ blasse Lippen, als würde er jeden Augenblick anfangen zu heulen. »Was machst du hier?«
    »Spielen.«
    »Spielen? Ausgerechnet dort, wo eine tote Frau gelegen hat?« Hoogens hatte eine berechtigte Vermutung, was hier vor sich ging. Er kam ja selbst vom Land und wusste genau, wie sich die Jugend hier gebärdete. »Verarsch mich nicht. Das ist eine Mutprobe gewesen. Habe ich recht? Geh allein in den Wald an die Stelle, wo die Leiche war. Oder?«
    Jonas schüttelte den Kopf. »Ehrlich nicht.«
    »Muss ich erst mit meinen Leuten telefonieren und deine Freunde einsammeln lassen, die dich zu diesem Scheiß angestiftet haben, bevor du mir die Wahrheit sagst?« Er präsentierte sein Handy, um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen.
    »Ich habe keine Freunde«, sagte Jonas leise.
    Hoogens seufzte und klappte sein Handy auf.
    »Ich habe keine Freunde«, wiederholte der Junge, schniefte und wischte sich mit dem Pulloverärmel über die Nase. Zwei dicke Tränen liefen ihm über die runden Wangen. »Ich war ganz allein

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