Der Wind bringt den Tod
plötzlich bremste, sodass Jule einen Zusammenstoß nur durch einen unkontrollierten Spurwechsel vermeiden konnte; der Typ im Anzug, der direkt vor ihrer Kühlerhaube noch schnell über die Straße huschte, obwohl die Fußgängerampel schon längst wieder rot war. Aber all das war nichts, verglichen mit den Radfahrern. Sie stellten Jules psychische Belastbarkeit auf die härteste Probe. In der Schanze war es erwartungsgemäß am schlimmsten. Zum alternativen Selbstverständnis der Bewohner dieses Viertels gehörten allem Anschein nach ein möglichst klappriges Fahrrad und möglichst wenig Rücksicht auf sich oder andere Verkehrsteilnehmer. Jules Erlebnisse aus der Vergangenheit spielten ihren Sinnen einen Streich, und mit einem Mal trugen alle Radfahrer blaue Windjacken, und die Straßen glitzerten, als wären sie spiegelglatt vor Eis.
Nun, da sie endlich auf dem Parkplatz angekommen war, presste sie die Stirn fest gegen das Lenkrad, bis das Rauschen in ihren Ohren verstummt war. Warum tat sie sich das alles an?
Sie betrachtete sich im Rückspiegel. So hätte sie wahrscheinlich auch ausgesehen, wenn sie gerade einen Marathon gelaufen wäre. Ihr Haar klebte ihr in nassen Strähnen auf der Stirn, ihr Mund war zu einer Linie zusammengekniffen, und ihre Augen waren von einer dumpfen Leere erfüllt.
Beim Anziehen der Handbremse fiel ihr Blick auf den Traumfänger, den ihr Caro als Glücksbringer geschenkt hatte. Ein mattes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wunderte sich erst selbst darüber, warum dieses billige Stück Tand, das angeblich böse Geister fernhielt, ihre Laune aufhellte. Aber durch den Traumfänger war es ein wenig so, als würde Caro mit ihr im Auto sitzen und ihr dabei helfen, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Sie glaubte nicht an böse Geister. Wer brauchte sie auch in einer Welt, in der es genügend Ungeheuer aus Fleisch und Blut gab? In der ein solches Ungeheuer die Leiche einer jungen Frau den Tieren im Wald zum Fraß vorwarf, als wäre sie nichts weiter als ein Stück Fleisch?
Jule tippte den Traumfänger sanft an und schaute ihm ein paar Sekunden beim Baumeln zu. Es war schön, einen Menschen wie Caro zu haben, mit dem man all seine Geheimnisse teilen konnte und der all seine Geheimnisse mit einem selbst teilte.
30
»Das macht mich total nervös«, sagte Caro. Sie wand sich das Telefonkabel um den Finger und war einmal mehr davon überzeugt, dass es nicht nur wegen der Vermeidung von Elektrosmog die richtige Entscheidung war, auf ein schnurloses Modell zu verzichten. »Verstehst du das?«
»Ja, aber ich denke, dass du unbewusst den Ausgang deiner Legungen beeinflusst.« Lothars Stimme war nicht im Geringsten anzuhören, dass er erst vor zwei Tagen einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte.
Caro wusste noch nicht so recht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Nachdem er sich beruhigt hatte, hatte sie ihm mit einer Pinzette die Splitter aus den Knöcheln gezogen und ihm die Hände verbunden. Dabei hatte er die ganze Zeit über wieder und wieder gestammelt, dass er sie nicht aufregen wolle. Er war erst wieder ruhiger geworden, als sie gemeinsam geduscht hatten, um das Blut von ihren Körpern abzuwaschen. Anschließend hatte er darauf bestanden, sie nach Hause zu fahren, und seither hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Heute hatte sie ihn unbedingt anrufen müssen, weil sie sich vor dem fürchtete, was die Befragungen des Tarots in den letzten Tagen ergeben hatten.
»Aber es war jedes Mal das Gleiche«, versuchte sie, ihm noch einmal zu erklären, weshalb sie so aufgewühlt war. »Für dich, für mich und für Jule. Die letzte Karte ist immer der Tod. Für uns alle drei. Macht dir das keine Angst?«
Er schwieg.
»Hat es was mit dem zu tun, was vorgestern Nacht passiert ist?«, fragte sie.
»Ich möchte nicht mit dir über diese Sache reden.«
»Hat es irgendwas mit Jule zu tun?« Caro hatte alles in ihrem Kopf so oft gedreht und gewendet, wie sie nur konnte, und der einzige erkennbare Auslöser für seinen Anfall war eben, dass sie unmittelbar davor über Jule gesprochen hatten. »Bitte sprich doch mit mir.«
»Ich kann verstehen, wenn du mich nicht mehr sehen willst«, sagte er.
»Was?«
»Ich kann verstehen, wenn du mich nicht mehr sehen willst.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie.
»Ich mache mir keine Illusionen darüber, wie ich nach dem, was passiert ist, auf dich wirken muss«, erläuterte er im selben Tonfall, den sie noch aus ihrer
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