Der Wind bringt den Tod
nicht bis morgen warten?« Er brauchte nicht zu wissen, dass er sie aus einem verstörenden Albtraum, in dem Frau Jepsens Puppen zum Leben erwacht waren, gerettet hatte. »Mir geht es gut. Ich bin nur etwas müde, um ehrlich zu sein.«
»Waren Sie in Odisworth?«
»Ja.« Jule schlurfte in die Küche und goss sich ein Glas Wasser aus dem Hahn ein. Seger ließ sich viel Zeit mit seiner nächsten Frage.
»Und es geht Ihnen wirklich gut?«
»Warum sollte es mir nicht gut gehen?« Ihr fiel auf, dass das eine völlig sinnlose Antwort war, wenn sie daran dachte, in welchem Verhältnis sie zueinander standen, und fügte rasch hinzu: »Sie hatten recht. Ich habe es geschafft. Beide Strecken ohne katastrophalen Zwischenfall. So wie Sie es gesagt haben. Sie wissen doch: Meine Angst gehört zu mir, aber ich bin nicht meine Angst.«
»Ja, ja. Das war mir klar.« Es klang fast, als wollte er sie abwürgen und als ob ihm sein eigener Beitrag zu der erfolgreichen Therapie völlig egal wäre. »Sagen Sie, Jule, hat Sie in Odisworth jemand angesprochen?«
»Wie angesprochen?« Sie wusste nicht, was sie mit dieser Frage anfangen sollte, aber sie ahnte, dass das nicht an ihrer Müdigkeit lag.
»Ein Mann, meine ich«, erklärte Seger. »Hat ein Mann Sie angesprochen, als Sie in Odisworth waren? Haben Sie jemanden näher kennengelernt?«
Jule rutschte ihr Glas aus den Fingern und polterte in die Spüle. »Woher wissen Sie das?«
»O Gott, ich hätte damit rechnen müssen.« Ein lang gezogenes Ächzen drang aus dem Hörer, bei dem sich Jules Nackenhärchen sträubten. Sie hätte nie geglaubt, dass ein Mann wie Lothar Seger dazu in der Lage war, ein Geräusch von sich zu geben, aus dem so viel Verzweiflung sprach. »Sie sind ihr sehr ähnlich.«
Jule war vom einen Augenblick zum anderen hellwach. Zorn über einen unverzeihlichen Vertrauensbruch peitschte das Adrenalin durch ihre Adern. »Wer hat Ihnen das erzählt? Das war Caro, richtig? Sie haben sich mit Caro getroffen, und sie hat Ihnen alles brühwarm erzählt.«
Er ging nicht auf ihre Frage ein, sondern schwieg einen langen Moment. »Hören Sie, Jule. Ich will nur, dass Sie vorsichtig sind. Er ist gefährlich. Er sieht in Ihnen nicht das, was Sie glauben.«
Nun verstand Jule gar nichts mehr. Ihr Zorn ebbte so schnell ab, wie er über sie gekommen war. »Woher kennen Sie Kommissar Smolski?«
Es folgte erneut ein kurzes Schweigen, doch als Seger dieses Mal weitersprach, hörte er sich anders an. Erleichtert. »Wie gesagt, Jule, ich wollte nur hören, wie es Ihnen geht, und es freut mich, dass wir gute Arbeit gemacht haben. Weiter so. Aber setzen Sie sich nicht zu sehr unter Druck. Sie müssen aufpassen, dass Sie sich nicht zu viel zumuten und an der Belastung zerbrechen. Vielleicht sollten Sie sich ein paar Tage krankschreiben lassen und einfach nur entspannen. Karriere ist nicht alles. Entschuldigen Sie bitte noch mal die Störung. Tut mir schrecklich leid, dass ich Sie aufgeweckt habe.«
Es klickte in der Leitung. Seger hatte aufgelegt und damit ein Gespräch beendet, das Jule verwirrt zurückließ. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wuchs in ihr der Verdacht, dass Lothar Seger unter Umständen dringender eine Therapie brauchte, als sie es jemals getan hatte. Ihr Urteil wäre vielleicht milder ausgefallen, hätte sie gewusst, dass ihr an diesem Tag noch ein weiterer Anruf bevorstand, der sie am Geisteszustand eines Menschen zweifeln lassen würde.
34
Der Verbandswechsel war ein schmerzhaftes Unterfangen, das Lothar Seger in Angriff nahm, nachdem er das Telefonat mit Jule Schwarz beendet hatte. Einige der schorfigen Wunden rissen wieder auf, weil sich Mullfäden im verkrusteten Blut verfangen hatten und er zu heftig daran zog.
Er setzte sich auf die Toilette und betrachtete seine zerschnittenen Knöchel. Wenn ein Rinnsal aus einer der kleinen Wunden zu groß wurde, leckte er es vorsichtig von seiner Hand. Der metallische Geschmack half ihm, seine Gedanken zu bündeln.
Er hatte das Richtige getan. Jule hatte eine Warnung verdient. Vielleicht hatte er die falsche Zeit dafür gewählt, aber das änderte nichts an der Wirkung seines Anrufs. Im Grunde konnte er doch beruhigt sein: Jule hatte offensichtlich einen Beschützer an ihrer Seite, einen Polizisten. Er dachte an die Frau aus Odisworth, die er damals hatte beschützen wollen, und was aus dieser Absicht geworden war. Er ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten und einige der
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