Der Wind bringt den Tod
Wunden wieder aufbrachen. Diesmal ließ er das Blut stoisch auf seine Schenkel und Füße tropfen. Die roten Spritzer, die auf den Fliesen landeten, erinnerten ihn daran, wer ihn davor bewahrt hatte, sich noch Schlimmeres anzutun. Machte er einen Fehler, Caro nicht in sein Geheimnis einzuweihen? Aber er kannte sie besser, als sie sich selbst. Sie war beileibe nicht so stark, wie sie dachte. Wenn er einen Teil seiner Schuld auf sie abwälzte, bestand die Gefahr, dass sie unter dieser Last zermalmt wurde. Konnte sie einen Mörder lieben? Nein, niemals. Und gemessen an seinen eigenen Maßstäben war er ein Mörder, auch wenn er das Opfer nicht selbst getötet hatte.
Er stand auf und wusch sich das Blut von den Händen. Das fremde Blut, das daran klebte, würde er nie mehr fortwaschen können. Aus reiner Gewohnheit blickte er auf, als er den Hahn zudrehte, und erschrak, weil ihm anstelle seines Gesichts nur die blanke Wand entgegenstarrte. Für einen Moment war ihm, als würde er ihre Stimme hören.
»Warum hast du mich gehen lassen?«, fragte sie, und er gab ihr stumm die Antwort, die er ihr immer gab: »Ich weiß es nicht.«
35
Der Wald roch nach nasser Erde. Der stete Regen der letzten Nacht hatte sich inzwischen zu einem nur hin und wieder einsetzenden Nieseln gewandelt, vor dem Stefan Hoogens unter dem Blätterdach der Bäume gut geschützt war. Am Grund der Grube, aus der die Leiche geborgen worden war, hatte sich das Wasser in kleinen Pfützen gesammelt, über denen die ersten Mücken schwirrten.
Hoogens hatte an diesem Sonntagmorgen die Flucht aus dem Haus seiner Cousine angetreten, weil Manuela das gesamte Frühstück über versucht hatte, ihm Einzelheiten über seinen Fall und seine Ermittlungen aus der Nase zu ziehen. Es faszinierte ihn nach wie vor, dass die meisten Menschen ein immenses Interesse an jedem noch so grausigen Detail über Gewalttaten jedweder Art zeigten – je blutiger und je unvorstellbarer, desto größer wurde diese morbide Neugier. Er hatte das nie verstanden.
Ihn trieb eher um, was jemanden zu seinen Taten veranlasste, und nicht so sehr die Ergebnisse dieser Verbrechen. Er war grundsätzlich davon überzeugt, dass fast jeder zu beinahe allem fähig war – von kleineren Vergehen wie Betrug oder Diebstahl bis hin zu schwersten Verfehlungen wie Vergewaltigung oder Mord. Es war letztlich alles nur eine Frage der richtigen – oder falschen – Umstände, ob man in einer konkreten Situation dem inneren Drängen seiner niederen Triebe nachgab oder nicht. Menschen waren Hoogens’ Auffassung nach nichts anderes als hoch entwickelte aggressive Rudeltiere, die sich über die Jahrtausende ihrer Entwicklung hinweg in mühevoller Kleinstarbeit einen mehr oder minder verlässlichen Rahmen dafür geschaffen hatten, was allgemein verträgliches und was unzulässiges und strafbares Verhalten darstellte. Manche Leute nannten diesen Rahmen Kultur oder Zivilisation, vielleicht auch nur Gesetz, und das waren Hoogens’ Erfahrung nach auch die Menschen, die am meisten davon erschüttert waren, wenn dieser Rahmen gründlich versagte.
So wie in diesem Fall.
Hoogens schritt langsam die Ränder der Grube ab. Warum hier? Warum hatte der Täter sein Opfer genau in diesem Wald und an dieser Stelle abgelegt? Nein, nicht abgelegt. In einem Brautkleid bestattet. Hoogens vermutete, dass die Begräbnisstätte sehr bewusst gewählt worden war, zumindest deutete die Aufmachung der Leiche darauf hin. Aber was war nun ausgerechnet an dieser Stelle so besonders?
Er hob den Kopf und drehte sich einmal um die eigene Achse. Er nahm jeden Baum, jeden Farn, jeden Strauch genau in den Blick. Was hatte der Mörder hier gesehen? Kannte er diesen Wald? Hatte diese Stelle irgendeine persönliche Bedeutung für ihn? Warum war sie besser für die Bestattung einer Braut geeignet als andere?
Das Stück Land mit dem Wald gehörte dem Schweinebauern, den Smolski ausgiebig verhört hatte. Ohne brauchbares Ergebnis. Vielleicht verrannten sie sich da auch nur in etwas. Wirklich frustrierend an diesem Fall war der Umstand, dass die Leiche vermutlich nie entdeckt worden wäre, wenn es keinen anonymen Hinweis gegeben hätte. Hoogens hatte lange mit Björn Hinrichsen geredet, dem Kollegen von der Schutzpolizei, der den anonymen Anruf entgegengenommen hatte. Hinrichsen war rein gar nichts aufgefallen, was auf die Identität des Anrufers hingedeutet hätte. Es handelte sich um einen Mann, der eine ALDI-Tüte an einen Ast gebunden
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