Der Wind bringt den Tod
Sogenannte Montagsautos. Die kaufe ich günstig ein und päppele sie wieder auf. Die meisten Mitglieder meiner Zunft haben dafür nicht mehr die nötige Geduld. Sie verlassen sich zu sehr auf die Technik und zu wenig auf ihr Gespür. Ist ja auch nichts zwingend Schlechtes. In unserem Fall könnte sehr gut was an der Elektronik sein.« Er suchte Jules Blick, ging mit den Lippen ganz nah an die glänzende Karosserie des BMW und sagte in einem Bühnenflüstern: »Stimmt doch, Schätzchen, oder?«
Es war merkwürdig zu sehen, wie Rolf ein Auto – für die meisten ein reiner Gebrauchsgegenstand oder Statussymbol und für Jule persönlich in erster Linie ein Objekt ihrer Angst – behandelte, als wäre es ein lebendiges, zu Empfindungen fähiges Wesen. Sie wusste nicht, wie sie auf diese Zurschaustellung von Emotionen reagieren sollte, und kam sich etwas unbeholfen vor, als sie fragte: »Ist dieser Elektronikkrempel so anfällig?«
Rolf schien das nicht zu merken und griff ihren Einwand dankbar auf. »Absolut. Da habe ich schon die wildesten Sachen erlebt.« Er tätschelte noch einmal den BMW, als wäre er ein sanftmütiger Rappe, an dem er gleich eine schwierige und schmerzhafte Operation durchzuführen hatte. »Und deshalb müssen wir auch alles genau überprüfen.«
Er wandte sich wieder dem Motorraum zu und schraubte einen der vielen Deckel darin ab, um darunter ein kurzes dickes Kabel freizulegen. »Was ist das?«, erkundigte sich Jule.
»Der Diagnosestecker.« Er ging zu einem der Spinde und holte einen kleinen robusten Laptop und ein Adapterkabel daraus hervor.
»Diagnose? Bist du Arzt? Und so viel Hightech. Ich dachte, ein Autoflüsterer schwört mehr auf Naturheilverfahren.«
»Sehr witzig.« Er klappte den Laptop auf, fuhr ihn hoch, verband ihn mit dem Diagnosestecker und startete ein Programm.
»Na also«, grunzte er. »Das wird jetzt eine Weile dauern. Du kannst dich so lange ruhig ins Auto setzen.«
»Nein, danke«, sagte Jule knapp. Inzwischen war ihre Panikattacke zwar weitgehend abgeklungen, aber sie hatte nun wirklich keine Lust, sich länger in einem Auto aufzuhalten, als es unbedingt nötig war.
»Möchtest du was trinken?«, unternahm Rolf einen neuen Anlauf. »Ich habe Bier, Cola und Wasser da. Kaffee auch, aber keine Filter.«
Typisch Mann, dachte Jule. Die meisten waren in allen praktischen Belangen, die nicht direkt etwas mit ihrer Arbeit oder ihrem Hobby zu tun hatten, völlig desorganisiert. Wie Rolf: draußen im Vorraum zehntausend Matchboxautos in Reih und Glied aufstellen und nach Modell und Baujahr sortieren, aber darüber vergessen, dass einem die Kaffeefilter ausgingen. »Ein Wasser wäre nett«, sagte sie.
Er verschwand durch eine Tür, an der ein Ferrari-Kalender hing. Jule wartete einen Moment, bevor sie den Laptop in den Blick nahm. Auf dem Monitor waren mehrere Fenster geöffnet. Die meisten zeigten Tabellen, in deren Spalten Buchstabenkombinationen und Zahlen standen, die Jule nicht das Geringste sagten. Manchmal sprang eine der Zahlen auf einen höheren oder niedrigeren Wert, und sie konnte nicht beurteilen, ob das nun gut, schlecht oder schlicht normal war. Sie konzentrierte sich schließlich auf das einzige Fenster, dessen Inhalt minimal zugänglicher wirkte: Hier liefen auf einem simplen Koordinatensystem sechs bunte Kurven von links nach rechts, und der Anblick erinnerte sie entfernt an die Aufzeichnungen eines EKG.
Das Treiben auf dem Bildschirm übte eine starke Anziehungskraft auf Jule aus. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Laptop, den Rolf auf einem umgedrehten Bierkasten unmittelbar vor der Schnauze des BMW abgestellt hatte. Die farbigen Kurven faszinierten sie. Sie waren wie Fäden, die sich beharrlich weigerten, zu Garn gesponnen zu werden: Ab und an berührten sich zwei oder drei von ihnen fast, nur um noch im selben Moment weit auseinanderzuspringen. Über allem lag das leise Knurren des Motors, der in diesem bunten Tanz den Takt vorgab. Sie begann zu verstehen, weshalb Rolf den Wagen wie etwas Lebendiges behandelte. Sie streckte die Hand aus, berührte den Bildschirm, der eine angenehme Wärme ausstrahlte, und folgte dem Verlauf einer blauen Linie mit den Fingerspitzen. Fast meinte sie, im Motorengeräusch noch etwas anderes zu hören: eine flüsternde Stimme, die ihren Namen sprach. »Jule.« Die Neonröhren an der Decke flackerten auf und verwandelten die gesamte Werkstatt einmal in einen Ort des grellen Lichtes und dann wieder in einen der
Weitere Kostenlose Bücher