Der Wind bringt den Tod
einer Stelle haftete das Plastik an etwas Feuchtem, und auf einigen der dunklen Flecken klebten kurze Haare.
»Alles klar?«, fragte er. Er blieb kurz unschlüssig stehen, ehe er die Tüte an den Henkeln mit Schwung durch das geöffnete Tor auf den Hof hinauswarf und die Handschuhe abstreifte, die danach denselben Weg gingen. Die Handleuchte legte er zurück auf einen der beiden Werkzeugwagen. Dann schaute er Jule aufmunternd an, trottete an ihre Seite und klopfte ihr auf die Schulter. »Kopf hoch. Halb so schlimm. War doch nur ein Kaninchen. Kein Kind oder so.«
Jule fiel ein, was sie erst vor wenigen Stunden in dem stickigen Raum in Odisworth gesagt hatte: Würden Sie alle auf Ihre Autos verzichten wollen, nur weil die Gefahr besteht, dass Sie irgendwann ein Kaninchen oder eine Katze überfahren? Es war nur ein Kaninchen gewesen. Wenn sie wegen eines Tiers in ihre alten, mühsam abtrainierten Verhaltensmuster zurückfiel, wäre das eine unverzeihliche Beleidigung jenes Menschen gewesen, der damals bei dem Unfall zu Tode gekommen war. Es war nur ein Kaninchen gewesen, kein Mensch: Das war der Gedanke, an dem sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen musste.
»Ich lass den Wagen mal an«, sagte Rolf und ging um den BMW herum. Er stieg nicht ein, sondern beugte sich erst über das Lenkrad, um den Startknopf zu drücken, richtete sich danach wieder auf und streckte ein Bein in den Fußraum. Der Motor heulte in rhythmischen Abständen auf. Von den Wänden zurückgeworfen wurde das Heulen lauter und lauter, bis es in Jules Ohren wie das Brüllen und Kreischen einer gemarterten Kreatur widerhallte. Nach einer Weile, in der sich immer mehr dünne Abgasschwaden über den Boden schlängelten, gab sich Rolf zufrieden. »Klingt alles ganz normal«, sagte er kopfschüttelnd.
Er langte noch einmal in den Innenraum. Klackend hob sich die Motorhaube einen Spalt breit. Rolf trat vor das Auto und öffnete sie ganz.
Zwei Dinge überraschten Jule und lenkten sie noch ein wenig mehr davon ab, was da auf dem Hof in der Supermarkt-Tüte lag: Erstens gab es keinen Stab, mit dem Rolf die Haube zu stützen brauchte. Sie blieb von ganz allein offen, und erneut – wie bei dem ausgeschlachteten Auto – drängte sich Jule der Vergleich mit einem geöffneten Maul auf. Zweitens war der Motorraum nicht so, wie ihn Jule erwartet hatte. Der letzte Motorraum, den sie gesehen hatte, war der ihres alten Twingo gewesen, mit dem sie auch den Unfall gehabt hatte, aber der war mit dem des BMW kaum zu vergleichen. Zum einen wirkte alles – die Schläuche, die Deckel, die Abdeckungen, die Kabel – so sauber, als könnte man es anfassen, ohne sich die Hände dabei schmutzig zu machen. Zum anderen war der eigentliche Motor hier ein gewaltiges Ungetüm, das wie ein pochendes Herz vor sich hin vibrierte.
Rolf beobachtete das Zucken und Ruckeln einige Sekunden lang aufmerksam. »Nee, Schätzchen, das ist es nicht«, sagte er halb enttäuscht, halb mitfühlend.
»Wie bitte?« Jule hoffte, sich erneut verhört zu haben. »Was war das gerade?«
Rolf stellte den Motor aus. »Was war was?«
»Hast du mich eben Schätzchen genannt?«
Rolfs Unterkiefer sackte nach unten, bevor er seine Verblüffung verbergen konnte. »Ich … ich hab … mit dem Auto geredet«, stammelte er und zog eine Grimasse, als hätte sie ihn bei einer grässlichen Untat erwischt.
»Aha.« Jule kniff die Augen zusammen. »Mit dem Auto.«
»Ehrlich«, beteuerte Rolf. »Ob du’s glaubst oder nicht, manchmal hilft das, um einen Wagen wieder zum Laufen zu bringen. So, wie andere Leute mit ihren Blumen reden, damit sie schneller wachsen.«
Das hörte sich zunächst ziemlich unglaubwürdig an. Aber dank Caro kannte Jule einen Menschen, der nicht nur mit Blumen, sondern ab und an auch mit Bäumen, Marienkäfern oder Steinen redete. Es wäre unfair gewesen, seine Aussage nicht zumindest im Bereich des Möglichen einzuordnen. Dennoch fand sie es seltsam. »Du bist also der Autoflüsterer, ja?«, fragte sie.
»Da hast du’s.« Er hob entwaffnet die Hände, klopfte auf das Dach des BMW und fügte hinzu: »Wenn ich nicht der Autoflüsterer wäre, hätte deine Firma nicht so ein Schnäppchen gemacht.«
Jule bedachte ihn mit einer skeptischen Miene. »So, so.«
»Im Ernst.« Er streichelte mit den Fingerspitzen über den schwarzen Lack des Wagendachs. »Ich schau mich nach Autos um, die keiner haben will, weil sie mehr Zeit in der Werkstatt als auf der Straße zubringen.
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