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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Einschätzung. Er schloss den Kofferraumdeckel. »Ich schaue mir das mal von unten an.«
    Nachdem er sich eine Handleuchte von einem der Werkzeugwagen genommen hatte, stieg er die Stufen in die Grube hinunter. Das Licht glitt einen Augenblick zwischen den Reifen hin und her und blieb dann starr auf einen Punkt gerichtet: Jules Füße.
    »Schöne Schuhe«, lobte sie Rolf. »Neu?«
    »Ja.«
    »Sieht man«, quittierte er die Information fachmännisch, und das Licht zog sich wieder unter den Wagen zurück.
    Jule ging in die Hocke, weil sie sehen wollte, was er da genau trieb.
    Erneut verharrte das Licht an einem Punkt. Dieses Mal war es der Hinterreifen, neben dem Jule kauerte.
    »Uh!« Das klang gar nicht beruhigend. »Igitt!«
    »Rolf?« Er ängstigte sie ein wenig.
    »Äh, kannst du mir eben mal bitte meine Handschuhe holen? Aus dem Spind ganz rechts. Da müsste auch eine Plastiktüte sein.«
    »Wozu brauchst du die Plastiktüte?« Neugier und Furcht kribbelten in Jules Hinterkopf.
    Seine Antwort stillte die eine und nährte die andere. »Weil es ganz danach aussieht, als ob du jemanden überfahren hast.«

47
     
    Jule schlug die Hände vors Gesicht. Alles um sie herum begann, sich zu drehen, als stünde sie auf einem Karussell. Ihr schlimmster Albtraum war bittere Wirklichkeit geworden. Sie hatte sich wider besseres Wissen hinter das Steuer eines Autos gewagt, und nun erhielt sie die gerechte Strafe dafür: Sie hatte noch einen zweiten Menschen getötet. Sie erstarrte, während die Werkstatt um sie herumwirbelte.
    »Oder das Vieh war bereits tot, als du drübergefahren bist«, sagte Rolf.
    Jule hörte ihn, und obwohl sie begriff, dass ihr ihr Verstand einen grausamen Streich gespielt hatte, fühlte sie sich kaum erleichtert. Allein der Raum, der sich eben noch so wild um sie gedreht hatte, kam auf einen Schlag wieder zum Stillstand. Das lähmende Gefühl der Ohnmacht blieb. Der einzige Ausweg aus ihrer Situation war, mechanisch jener Aufforderung zu folgen, die Rolf an sie gerichtet hatte. Das war besser als das, was sie am liebsten getan hätte: sich nie mehr rühren, weil die kleinste Regung unaussprechliches Unheil nach sich ziehen konnte. Sie war der Schmetterling aus der Chaostheorie, dessen kaum spürbarer Flügelschlag in einem weit entfernten Land einen verheerenden Sturm entfesselte.
    Sie holte die Handschuhe aus dem obersten Fach des penibel aufgeräumten Spinds und stieß am Boden auf eine ordentlich zusammengefaltete Supermarkt-Tüte. Als sie sich zur Grube umdrehte, ragte Rolfs Hand knapp neben dem Reifen unter dem Wagen hervor, wie wenn er tot unter dem BMW eingequetscht wäre. Seine Finger winkten nach ihr. »Hier bin ich.«
    Sie drückte ihm die Handschuhe und die Tüte in die Hand.
    »Das war ein Kaninchen, würde ich sagen.« Ein leises Schmatzen und Schaben drang aus der Grube empor. Jule wehrte sich gegen die Vorstellung, wie Rolf den Kadaver vom Unterboden des Wagens löste. Wie viel von dem toten Tier hatte sich in den Ritzen und Kanten festgesetzt? Wie sehr musste er pulen und bohren, um alles zu entfernen? »Teile davon wurden hochgeschleudert und haben sich hier verfangen.« Sie hörte ein Rascheln, das ein saures Brennen in ihrer Kehle auslöste. Rolf füllte die Reste des Tiers in die Plastiktüte. »Ist voll in die Radaufhängung gegangen, das verdammte Biest.«
    Jule schluckte die Galle, die ihr den Hals hinaufstieg, mühsam herunter. Bumm . So hatte es heute Morgen auf der Autobahn geklungen. Der erste Schlag. Hatte sie da nicht sogar noch daran gedacht, dass ihr ein Tier unter die Räder geraten sein könnte? »Das kann nicht sein«, wisperte sie.
    »Was? Hast du was gesagt?« Noch mehr Schaben. Noch mehr Rascheln.
    »Das kann nicht sein«, wiederholte sie lauter. »Ich habe vorhin extra unter dem Wagen nachgeschaut.«
    »Das hättest du nur sehen können, wenn du daruntergelegen hättest«, sagte Rolf. »Und ich nehme nicht an, dass du auf dem Seitenstreifen herumgekrochen bist.«
    »Auf einem Rastplatz«, korrigierte sie ihn.
    »Was?«
    »Schon gut.« Ihre rationale Seite gewann nach dem gerade erfahrenen Schock zaghaft wieder die Oberhand. »Kommt daher das Klopfen?«
    »Glaub ich nicht.« Rolf ächzte wie eine alte Dampflok, als er sich aus dem schmalen Spalt über die Stufen zurück nach oben wuchtete. »So was macht eigentlich keinen Lärm. Wie laut war denn dieses Klopfen?«
    Sie schwieg, weil sie von der ausgebeulten Tüte und dem Blut an Rolfs Handschuhen wie gebannt war. An

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