Der Wind bringt den Tod
Jette kamen nicht mehr raus. Sie lagen in ihrem Schlafzimmer. Sie müssen irgendwann aufgewacht sein, weil es später so aussah, als wären sie aus dem Bett auf die Tür zugekrochen. Zumindest hat das Mangels so erzählt, und der muss es wissen, weil er damals noch bei der Feuerwehr war, und er war einer der Ersten, die die verkohlten Trümmer im Obergeschoss des Hauses durchsucht haben. Eine schlimme Geschichte.« Eva tupfte noch mehr Blut von ihrem Finger. »Richtig schlimm.«
Jule dachte an jenen Abend zurück, an dem das Navigationsgerät sie vor das Gehöft der Nissens geführt hatte. Ob sie noch panischer von dort geflüchtet wäre, wenn sie damals schon um das grausige Geheimnis gewusst hätte, das die Ruine in sich barg? Caro hätte ihr sicher erklärt, dass manche Orte ein Gedächtnis besaßen und dort schreckliche Ereignisse aus der Vergangenheit bisweilen noch weit in die Zukunft nachhallten, Orte, an denen man sich aus unbestimmten Gründen unwohl fühlte.
Jule trank einen Schluck Tee und konzentrierte sich auf das wahre Problem, vor dem sie nun stand. »Hatten die Nissens Kinder?«
»Einen Sohn«, antwortete Eva. »Er ist aber nach dieser Tragödie nicht im Dorf geblieben. Er hat eine Weile bei den Fehrs gewohnt, aber nur ein paar Wochen. Margarete war schon immer ganz versessen auf den Jungen gewesen.« Sie lächelte versonnen. »Sehen Sie? Manche Leute gehen auch von hier fort, ohne dass wir sie vertreiben. Ab und zu verlassen sie ihre Heimat, weil sie vor der Erinnerung an ein Leid fliehen wollen, das sich nicht ungeschehen machen lässt.«
Jule ging nicht weiter darauf ein. »Kennen Sie zufällig die neue Adresse vom Sohn der Nissens? Sie würden mir damit immens weiterhelfen.«
»Da muss ich Sie leider enttäuschen«, sagte Eva. »Jan schaut zwar alle paar Wochen hier im Dorf und beim Gehöft vorbei – seine Wurzeln kann man eben nur schlecht verleugnen –, aber er war schon immer ein verschlossener Junge. Er redet nicht viel. Malte ist ihm neulich im »Dorfkrug« begegnet und hat ihn gefragt, wo er jetzt wohnt. In der Stadt. Das war alles, was er darauf geantwortet hat.«
Jule hatte keine Schwierigkeiten, sich auszumalen, wie eine Unterhaltung zwischen zwei norddeutschen Männern aussah, die weder zur Redseligkeit noch zur Gefühlsduselei neigten. Vielleicht hatte Eva gerade den gesamten Wortlaut der Unterhaltung wiedergegeben. Wo wohnst du jetzt? In der Stadt.
»Apropos Adresse.« Eva stand auf und stellte die halb leere Teekanne samt Stövchen auf ein Tablett. »Ich muss Ihnen noch ein kleines Geständnis machen.«
»Ein Geständnis?«
»Es ist … es ist mir ein wenig … unangenehm, weil … na, weil mir so etwas nur selten passiert«, sagte Eva.
Jule fand es amüsant und rührend, wie die sonst resolute Frau nun um Worte rang. »Was ist denn passiert?«
»Heute Morgen ist ein Brief für Sie angekommen«, gestand Eva. »Ein großer Umschlag.« Sie deutete mit beiden Händen ein beachtliches Format an. Jule erahnte, was der Inhalt dieses Briefes war. »Also normalerweise lege ich die Post für Gäste oben im Flur auf die kleine blaue Kommode. Aber dieses Mal … Ich war noch am Klönen mit der Postfrau und hatte den Brief unter den Arm geklemmt. Dann ist mir eingefallen, dass ich noch eine Pfanne Rührei auf dem Herd hatte, und ich bin zurück in die Küche gelaufen. Den Brief muss ich irgendwo hingelegt haben. Und jetzt finde ich ihn nicht mehr.« Sie machte eine kurze Pause, um dann rasch hinzuzufügen: »Es kann sein, dass er hinter einen Schrank gerutscht ist. Das ist mir vorhin erst eingefallen. Ich wollte meinen Mann gerade darum bitten, die Schränke ein Stück vorzurücken, da haben wir Sie draußen bremsen gehört.« Sie schaute Jule mit hängenden Mundwinkeln an. »Ich hoffe, es ist nichts Wichtiges, worauf Sie dringend warten.«
»Nein, ist es nicht.« Jule sagte die Wahrheit. Es lohnte sich nicht, viel Aufhebens um den verschollenen Brief zu machen: Er enthielt aller Voraussicht nach nur den aktuellen Bebauungsplan, den ihr Andreas versprochen hatte. Das Einzige, was für Jule daran von brennendem Interesse gewesen war, war der Name von Fehrs’ Nachbarn. Den kannte sie aber inzwischen: Jan Nissen. »Es wäre schön, wenn der Brief wieder auftaucht, aber es hat keine Eile.«
Eva verschwand mit dem Tablett durch die Terrassentür.
Jule griff zu ihrem Smartphone. Der Name Jan Nissen allein war noch nicht sonderlich viel wert. Sie hegte allerdings eine gewisse
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