Der Wind bringt den Tod
erzählt, der es nicht mehr ausgehalten hat, weil alle ihn wie einen Ausgestoßenen behandelt haben.«
»So was hat Andreas Ihnen erzählt?« Eva runzelte die Stirn.
Jule nickte. »Ja. Ich hatte fast den Eindruck, als wäre sein Freund förmlich aus dem Dorf gejagt worden.«
»Aus dem Dorf gejagt?« Evas Lippen kräuselten sich, als hätte sie ein Glas Essig getrunken. »Wie stellen Sie sich das vor? Verjagt? Mit Mistgabeln und Fackeln?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Wir verjagen gar niemanden. Wir machen nur deutlich, dass wir gewisse Dinge hier nicht haben wollen. Sie kommen aus der Stadt. Da haben Sie sich bestimmt an vieles gewöhnt, was im Grunde weder gut noch richtig ist. Wir haben nicht viele Regeln, an die man sich halten muss, aber wem das nicht passt – bitteschön.« Sie wies auf das andere Ende des Gartens, wo sich hinter einem von wucherndem Rhabarber verborgenen Zaun die flache Weite des Landes erstreckte. »Die Welt ist groß genug für alle möglichen Dummheiten. Odisworth ist es nicht.«
Es entstand eine zähe Pause. Entgegen ihrer Art schien Eva nicht gewillt, sie von ihrer Seite aus zu beenden. Jule konnte es ihr kaum verübeln. Eva hatte ihr bislang nur Gutes getan, und dass sie Jule nach ihrem Heulkrampf hier auf der Terrasse mit Tee und Keksen tröstete, ging weit über die gewöhnlichen Pflichten einer Pensionsbetreiberin hinaus. Und wie hatte Jule ihr diese Zuwendung gedankt? Durch dumme Fragen, die sich aus Evas Perspektive leicht als haltlose Unterstellungen einer arroganten Großstädterin auslegen ließen. Jule drehte den Ring an ihrem Finger eine Weile und sagte dann: »Ich wollte Sie auf keinen Fall beleidigen. Und ich hätte auch auf Ihre Warnung gehört. Leider verhält es sich aber so, dass Fehrs sein Land zur Verfügung stellen müsste, damit der Windpark in der geplanten Form gebaut werden kann. Ansonsten wäre ich nie zu ihm gefahren.«
Eva schaute kurz von ihrer Stickarbeit auf. »Ihnen liegt wohl eine ganze Menge an diesem Windpark.«
»Es ist das wichtigste Projekt, das ich je betreut habe.« Laut ausgesprochen wog die Last ihrer Verantwortung noch schwerer auf Jule. Sie zog die Decke enger um sich. »Meine weitere Karriere hängt davon ab.«
»Dann hatten Sie ja keine andere Wahl, als mit Erich zu sprechen«, sagte Eva ruhig.
»Nein, hatte ich nicht.« Wenn sie schon über ihre Arbeit redeten, konnte sich Jule auch gleich mit einer wichtigen Frage an Eva wenden. »Kennen Sie eigentlich jemanden, der Esbert heißt?«
Eva überlegte zwei Nadelstiche, bei denen ihre Zungenspitze zwischen den Lippen hervorlugte. »Nein, wer soll das sein?«
»Ich vermute, ihm gehört eines der größeren Grundstücke, auf denen der Park gebaut werden soll«, erklärte Jule. »Sagt Ihnen der Name Nissen etwas?«
Eva zischte, zog die Hand unter dem Puppenkleid heraus und steckte sich einen Finger in den Mund.
»Haben Sie sich gestochen?«, fragte Jule.
»Halb so schlimm.« Eva musterte die Stelle, an der die Nadel in die Fingerkuppe gedrungen war. Ein Tropfen Blut quoll aus der Wunde. »Was hat Nissen denn mit dem Windpark zu tun?«
»Sie kennen ihn?«
Eva nickte, ohne Jule dabei in die Augen zu sehen.
»Wenn er zufällig der Besitzer eines ausgebrannten Gehöfts ist, würde ich mich gern einmal mit ihm unterhalten«, sagte Jule.
»Das wird schwierig.« Eva tupfte das Blut mit einer Serviette von ihrem Finger.
»Warum?«
Die Antwort ließ Jule trotz der Decke um ihre Schultern frösteln. »Weil Klaas Nissen seit zehn Jahren tot ist.«
58
»Nissen ist tot?«
»Ja.« Eva deponierte das Puppenkleid auf einem der freien Stühle. Sie achtete genau darauf, dass nur ihre unverletzte Hand zum Einsatz kam, um keinen Blutfleck auf dem Stoff zu hinterlassen. »Das Gehöft, das Sie eben erwähnt haben … Klaas und seine Frau sind beide darin verbrannt. In der Nacht, in der sie gestorben sind, gab es ein Gewitter, ohne Regen. Es war ein fürchterlich heißer Sommer damals. So heiß, dass man splitternackt schlafen konnte und sich trotzdem die Seele aus dem Leib schwitzte. Solche Sommer sind bei uns selten, aber wenn mich nicht alles täuscht, droht uns auch dieses Jahr wieder so eine Hitzewelle. Jedenfalls hat der Blitz bei den Nissens eingeschlagen. Also eigentlich nicht direkt bei ihnen, sondern in einer großen toten Ulme, die hinter dem Haus stand. Der Blitz hat den Baum in Brand gesteckt. Dann ist der Baum umgefallen, und der Dachstuhl hat Feuer gefangen. Klaas und
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