Der Wind bringt den Tod
der Wucht des Aufpralls zermalmt worden. Jonas’ Blut hätte den Asphalt rot gefärbt. Jule konnte die Lache, die sich unter dem Wagen immer weiter ausbreitete, riechen. Sie konnte die entsetzten Schreie der Jepsens hören und das Heulen von Sirenen aus der Ferne. Sie hatte den sterilen Geruch des Inneren eines Rettungswagens in der Nase und die beruhigenden Worte eines Sanitäters im Ohr.
Ein lautes Lachen aus der unteren Etage der Pension, wo die Jepsens noch immer am Wohnzimmertisch saßen, verlieh ihr die nötige Kraft, um gegen ihre peinigenden Vorstellungen aufzubegehren. Sie wälzte sich auf den Rücken, richtete sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und ging zu dem kleinen Waschbecken in der Zimmerecke. Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie wirkte abgekämpft und müde. Eingefallene Wangen, dunkle Ringe unter den Augen, bleiche Lippen dünn wie Bleistiftstriche – so sahen die Frauen in Vampirfilmen aus, denen die Blutsauger Nacht für Nacht Besuche abstatteten, um ihnen etwas von ihrer kostbaren Lebenskraft zu rauben.
Als sie sich über das Becken beugte, um einen Schluck Wasser zu trinken, und das kühle Nass ihr an den Mundwinkeln und den Hals hinunterrann, wurden ihr die Knie weich und sie musste sich mit beiden Händen fest abstützen.
Was ihr heute widerfahren war, war nicht grauenhaft und schrecklich. Es trug vielmehr eine Verheißung darauf in sich, dass sich die Dinge für sie zum Besseren gewandt hatten. Sie war hinter dem Steuer eines Autos in eine heikle Situation hineingeraten, und sie hatte diese Situation gemeistert, ohne dass daraus eine Katastrophe geworden war. Entgegen ihrer bisherigen Auffassung existierte doch kein unumstößliches Gesetz, das sie dazu verdammte, anderen den Tod zu bringen, sobald sie sich in einen Wagen setzte.
Jule starrte auf das Wasser, das aus dem Hahn schoss und gurgelnd im Abfluss verschwand. Es stimmte. Der Kreis war durchbrochen. Seger hatte recht behalten. Ihre Angst hatte sich hinter einer Logik getarnt, die keine war. Auf einen ersten Unfall folgte eben nicht zwingend ein zweiter. Selbst dann nicht, wenn die Ausgangssituation mehr oder weniger dieselbe war. Diesmal hatte sie rechtzeitig reagiert. Diesmal hatte sie gebremst. Diesmal hatte niemand ernsthaften Schaden genommen. Vielleicht würde das bei der nächsten brenzligen Situation anders sein. Doch das war nun keine absolute Gewissheit mehr. Jule brauchte einen Moment, bis sie begriff, was das fremde Gefühl war, das sich zaghaft in ihr ausbreitete: Erleichterung.
Sie drehte den Hahn zu, zog sich exakt in der Reihenfolge aus, wie es ihr allabendliches, selbst gewähltes Ritual vorschrieb – Strümpfe, Bluse, Hose –, legte die Kleidung für den morgigen Tag auf einem Stuhl parat und schlüpfte zurück ins Bett. Ihre Gedanken kreisten erst noch eine Weile um Jonas und den Achter im Reifen seines Mountainbikes, ehe sie im langsamen Hinabsinken in einen tiefen Schlaf über Jan Nissen und das ausgebrannte Gehöft rätselte. Kurz bevor sie in eine stille Schwärze glitt, dachte sie zwei Herzschläge lang an den Mord an der Frau, die ihr so ähnlich gesehen hatte. Bevor ihr völlig klar werden konnte, dass heute niemand im Nachbarzimmer war, der einen blutrünstigen Eindringling nötigenfalls in die Flucht schlagen konnte, war sie eingeschlafen.
61
»Du brauchst mich nicht so anzuschauen. Wir sind gleich da«, sagte Hans-Herrmann Mangels zu seinem Hund. Bismarck trottete zum Wegesrand, schnupperte am Pfosten eines Weidezauns und hob das Bein.
Bismarck war ein schlaues Tier. Dem Hund war aufgefallen, dass der Abendspaziergang mit seinem Herrchen dieses Mal länger war als sonst. Daran trug Ute Jannsen die Schuld.
Mangels hatte lange nicht mehr an das Feuer gedacht. Erst Ute hatte die Erinnerungen daran wieder hochkommen lassen. Und nun hoffte er, die Anspannung der letzten Tage durch den Besuch am Ort der Tragödie endlich loszuwerden. Nach dem Abendessen hatte er sich von seiner Frau verabschiedet, sich seine Mütze und die Hundeleine genommen und war losgelaufen.
Das Gehöft der Nissens lag vor ihm, anklagend und düster. Brusthohe Disteln wucherten im Garten hinter dem Haus, die in der Dämmerung eine geradezu undurchdringliche Wand aus stacheligen Blättern zu bilden schienen.
Mangels hatte auf seinem Weg einen großen Bogen um den Wald gemacht und sich seinem Ziel von der Seite her genähert, auf der das Gelände weit und offen war. Er sah sich nicht als sonderlich abergläubischen
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