Der Wind bringt den Tod
lebte!
»Lach nicht so doof, du Schlampe!«
Er trat gegen die Tür. Der dumpfe Schlag klang in Jules Ohren wie Musik.
»Jonas Plate!« Die Frauenstimme verlor selbst durch das Metall und Glas der Karosserie nichts von ihrer Schrillheit. »Lass sofort die arme Frau Schwarz in Ruhe! Heb dein Rad auf und schaff dich nach Hause, du Lümmel!«
Jonas hob den Arm über das Autodach und zeigte Frau Jepsen den Mittelfinger.
»Das habe ich gesehen!«, keifte Frau Jepsen. »Wart nur ab, was du davon hast! Malte! Malte!«
Jonas war frech, aber nicht dumm. Das Herbeirufen von Frau Jepsens Ehemann genügte, dass der Junge sich beeilte wegzukommen. Er wischte sich die blutigen Hände am Hosenboden ab, hob sein Rad auf und schob es auf den Bürgersteig. Der Vorderreifen eierte in einem gewaltigen Achter.
Der Anblick, wie sich der bis auf ein paar Schrammen unversehrte Junge mit seinem beschädigten Mountainbike entfernte, erstickte Jules Lachen. Es war nicht gerecht. Warum? Warum hatte das Schicksal nicht auch die junge Frau damals verschonen können? Warum war sie nicht auch einfach wieder aufgestanden? Warum hatte sie nicht auch ein paar üble Beschimpfungen von sich gelassen, um dann ihrer Wege zu ziehen? Warum hatte sie stattdessen im eisigen Schnee in ihrem eigenen Blut gelegen? Warum? Warum hatte sie sterben müssen?
Jule senkte den Kopf und schluchzte. Erst leise und verschämt, dann laut und hemmungslos.
57
Jule konnte sich im Nachhinein nur bruchstückhaft daran erinnern, wie sie auf die Terrasse der Jepsens gekommen war. Sie wusste noch, dass Malte Jepsen sie aus dem Wagen geholt und wie der alte Mann dabei gerochen hatte: nach frischer Erde, Zitrone und Pfeifenrauch – angenehme, sanfte Düfte. Jetzt saß Jule auf einem Gartenstuhl, eine gelbe Decke um die Schultern und ein tränenfeuchtes zerknülltes Papiertaschentuch auf dem Schoß. Vor ihr stand eine große Tasse Tee – mit Sahne und Kandiszucker, wie man ihn in dieser Gegend üblicherweise trank – und eine Schale mit Keksen. Je länger Jule dabei zusah, wie der Wind über die Grashalme im Garten und über das Wasser im kleinen Teich strich, desto mehr fanden ihre strapazierten Nerven wieder Ruhe. Ungeachtet dessen schämte sie sich in Grund und Boden, vor den Jepsens so hysterisch geworden zu sein.
»Es tut mir furchtbar leid, Ihnen solche Umstände zu machen, Frau Jepsen. Sagen Sie das bitte auch Ihrem Mann.«
Frau Jepsen sah von dem rosa Puppenkleid auf, das sie gerade mit einer weißen Rosenblüte bestickte. »Reden Sie keinen Unsinn. Und ich heiße übrigens Eva. Mit Ihrem ständigen Frau Jepsen fühle ich mich ja noch älter, als ich ohnehin schon bin.«
Jule lächelte schwach.
Eva nahm das Lächeln und Jules Entschuldigung offenkundig als Signal, ihre ungewohnte Schweigsamkeit abzulegen. »Sie dürfen sich das mit dem kleinen Rabauken nicht so zu Herzen nehmen. Der fährt immer wie eine gesengte Sau. Kann von Glück reden, dass ihn noch keiner platt gefahren hat.« Sie seufzte und setzte zu einem neuen Stich an. »Nicht, dass es sonderlich schade um dieses ungezogene Ungeheuer wäre.«
»Jonas?«, fragte Jule. »Klar, er war schon ziemlich frech zu Ihnen, aber …« Sie holte tief Luft, ehe sie ihren Satz vollendete. »Er wäre auch fast unter die Räder gekommen.«
Eva zerrte die Nadel nach oben, als wäre sie dabei, Jonas sein freches Mundwerk zuzunähen. »Der braucht unsere Rücksicht nicht. Der macht nur Scherereien, seit er im Dorf ist.«
»Er ist nicht von hier?«
»Gott bewahre! Er ist mit seiner Mutter zugezogen.« Eva schloss die Augen und legte den Kopf schief. »Vor zwei, nein, drei Jahren. Da war Peter Burmester noch Schützenkönig. Ja, vor drei Jahren. Aus Kiel.« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Seine Mutter hat sich scheiden lassen, und das ist dem Jungen alles andere als gut bekommen. Dem fehlt die strenge Hand, wenn Sie mich fragen. Birgit lässt ihm viel zu viel durchgehen. Sie sagt zwar jedes Mal, er würde sich bessern, aber das wird nicht passieren, wenn ihm nicht mal irgendwer kräftig die Ohren lang zieht.« Sie legte das Puppenkleid beiseite, um an ihrem Tee zu nippen. »Die meisten Jungs fangen in einem gewissen Alter an, zu zündeln und mit Böllern zu experimentieren. Sie sollten mal sehen, was hier an Silvester los ist. Aber ein ganzes Feld hat noch keiner von unseren Jungs abgebrannt. Birgit meint zwar, das wäre ein Unfall gewesen, aber ich glaube das nicht.«
»Wieso
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