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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Hoffnung darauf, dass ihr Andreas in dieser Angelegenheit weiterhelfen würde. Da sie außerdem auch darauf hoffte, dass er wenigstens seine SMS las, wenn er schon keine Anrufe entgegennahm, tippte sie ihm rasch eine Kurzmitteilung.
     
    Hi, Andreas. Alles klar bei dir? Danke für den Plan. Zwei Fragen: Wer ist Esbert? Hast du die Adresse von Jan Nissen? Melde dich bitte. Alles Gute, Jule.
     
    Sie schickte die SMS ab und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Jetzt konnte sie nur noch warten.

59
     
    Odisworth.
    Wie viele Male hatte Lothar Seger sich geschworen, nie wieder an diesen verfluchten Ort zurückzukehren? Und wie viele Male hatte er diesen Schwur wieder gebrochen? Wie so oft zuvor näherte er sich dem Dorf über einen Feldweg. Sein Land Rover Defender fiel hier nicht weiter auf. Er wählte diese ungewöhnliche Route, weil er die Orte aufsuchen wollte, die für sie am wichtigsten gewesen waren. Den Weiher, wo sie als kleines Mädchen schwimmen gelernt hatte. Sie hatte furchtbare Angst vor dem dunklen Wasser gehabt, weil ihr Großvater erzählt hatte, dass einmal ein Junge in ihrem Alter darin ertrunken war. Den Sportplatz, auf dem sie in der achten Klasse für die Landesmeisterschaften im Weitsprung trainiert und wo sie sich am Wochenende vor dem Wettkampf zwei Bänder gerissen hatte. Es war einer der schlimmsten Rückschläge gewesen, den sie bis dahin hatte verkraften müssen, und es hatte sie besonders geschmerzt, wie enttäuscht ihre Eltern darüber gewesen waren. Den alten Hochsitz, wo sie im selben Sommer zum ersten Mal erlebt hatte, wie es sich anfühlte, wenn ein Junge ihre Brust streichelte und an ihren Brustwarzen leckte. Fremd und aufregend. Vor allem, weil es den besonderen Reiz des Verbotenen hatte.
    Nachdem er seine Runde absolviert hatte, fuhr Seger sie ein zweites Mal. Dann hielt er den Defender mitten auf dem Weg vor dem Hochsitz an und starrte zu den Häusern von Odisworth hinüber, die im Licht der untergehenden Sonne eine malerische Unberührtheit ausstrahlten. Er fing an, sich den Schorf von den Knöcheln zu kratzen, bis er eine befriedigende Nässe spürte. Er wollte, dass die kleinen Wunden vernarbten. Das war er ihr schuldig. Er hatte versagt. Er hatte all diese kleinen und großen Bruchstücke ihrer Vergangenheit und ihrer Psyche zutage gefördert, und was hatte es am Ende genutzt? Nichts. Die Dinge, die ihr Leben vielleicht hätten retten können, hatte sie für sich behalten, ganz egal, wie sehr er sie auch gequält hatte.
    »Mein Gott, Kirsten«, murmelte er. »Warum warst du nur so verdammt stur?«
    Er startete den Motor und steuerte das Dorf an. Wider alle Vernunft hoffte er manchmal, er würde sie doch noch eines Tages dort finden. Und wie immer, wenn er Odisworth einen Besuch abstattete, ging auch an diesem Abend die Vernunft als Siegerin über seine Hoffnung hervor.

60
     
    Jule verbrachte den Abend in Gesellschaft der Jepsens. Einer Einladung zum Abendbrot – fetter Räucheraal, Matjes und Katenschinken – folgte eine Runde Rommé im Wohnzimmer unter den Augen der Puppensammlung.
    Im Verlauf des Abends vollzog sich eine erstaunliche Entwicklung: Malte Jepsen öffnete sich Jule gegenüber so weit, dass er sie darum bat, ein Erinnerungsfoto von ihr und seiner Frau machen zu dürfen. Jule hatte dagegen keine Einwände – insgeheim fühlte sie sich über diesen Beweis der Zuneigung geschmeichelt. Malte schaffte daraufhin eine alte Spiegelreflexkamera herbei, die zu einer Zeit hergestellt worden sein musste, in der Digitalfotografie höchstens in abseitigen Science-Fiction-Büchern thematisiert wurde. Aus dem einen Foto wurde schließlich ein ganzer Film voller Schnappschüsse.
    Als sich Jule in ihr Zimmer im oberen Stockwerk zurückzog, dröhnte ihr die Stille, die dort herrschte, förmlich in den Ohren. Zum ersten Mal seit dem Beinahezusammenstoß mit Jonas Plate war sie ganz allein. Sie fühlte sich schwer und unbeholfen und legte sich bäuchlings auf das Bett, vergrub ihr Gesicht im Kissen und atmete den schalen Geruch der Daunenfütterung ein. Jules Gehirn machte sich umgehend daran, sich im Knüpfen nicht zustande gekommener Ereignisketten zu üben. Wenn sie vorhin nicht das Gefühl gehabt hätte, das Lenkrad in ihrer Hand zucken zu spüren, hätte sie weder das Steuer herumgerissen noch wäre sie auf die Bremse getreten. Der Wagen wäre nicht rechtzeitig zum Stehen gekommen, und sie hätte Jonas erwischt. Sein Körper wäre von dem Gewicht des tonnenschweren BMW und

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