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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Ich rechne jeden Tag mit verlässlichen Ergebnissen. Außerdem laufen noch eine Reihe forensischer Analysen.«
    Er machte eine Pause, vielleicht, um ihr die Gelegenheit einzuräumen, näher nachzuhaken. Jule ließ diese Gelegenheit verstreichen.
    »Also noch einmal: Ich bin morgen oder übermorgen in Odisworth«, sagte Smolski. »Bewahren Sie die Puppe und den Brief gut auf. Ich werde sie abholen und an die entsprechenden Stellen weiterleiten. Ich habe noch den einen oder anderen alten Gefallen über, den ich einlösen kann, damit es nicht auf die lange Bank geschoben wird.«
    »Danke.« Jule gab ihre halb zusammengerollte Haltung auf und schaute in den Fußraum. Das zerknüllte Stück Papier war immer noch dort, wo sie es hingeworfen hatte. Sie traute sich nicht, Smolski zu gestehen, dass sie die Puppe erst noch im Vorgarten der Jepsens würde suchen müssen. »Vielen Dank.«
    »Nichts zu danken.« Langes Rauschen. »Und, Jule?«
    »Ja?«
    »Lassen Sie sich nicht unterkriegen«, sagte er in der Art eines Generals, der seine Soldaten in eine aussichtslose Schlacht führte. »Ich weiß genau, wie es ist, der Fremde im Dorf zu sein. Geben Sie nicht auf. Lassen Sie den Leuten die Zeit, sich an Sie zu gewöhnen.«
    Es war ein gut gemeinter Ratschlag, wenn auch ein wenig hilfreicher. Zeit war exakt das, was ihr fehlte. Ihr Chef war nicht für seine Geduld bekannt.
    »Bis bald, ja?«
    »Ja. Bis bald.«
    Jule verstaute ihr Handy und bückte sich, um den zerknüllten Drohbrief aufzuheben. Sie öffnete das Handschuhfach und klappte es sofort wieder zu. Den Brief steckte sie in die Hosentasche. Es wäre dumm von ihr gewesen, ihn im Auto zu lassen. Immerhin hatte es jemand schon einmal geöffnet.
    Sie stieg aus. Die Fenster an der Vorderseite der Pension waren dunkel. Nur im Flur brannte wie fast immer Licht, das durch die Glaseinsätze in der Haustür fiel. Ihre Suche nach dem kleinen Beet mit den Azaleen gestaltete sich schwierig. Im blauen Dämmerlicht büßten die Blumen in Evas Vorgarten viel von ihren leuchtenden Farben ein. Nachdem sie das richtige Beet gefunden hatte, ging sie davor in die Hocke und spähte zwischen die Blätter, Blüten und Stängel. Anfangs dachte sie noch, die einsetzende Dunkelheit wäre schuld, dass sie die Puppe nicht gleich fand. Nach und nach bekam sie jedoch einen üblen Verdacht, der sich zunehmend verhärtete: Die Puppe war nicht mehr da.
    Sie richtete sich auf und zupfte an ihrem Ohrläppchen. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Sie irrte ziellos einige Schritte auf dem Rasen hin und her. Zum Glück gab es den Brief in ihrer Hosentasche. Ohne ihn hätte sie wahrscheinlich begonnen, an ihrem Verstand zu zweifeln.
    »Suchen Sie was?«
    Jule schreckte auf. Die gewaltige Gestalt Malte Jepsens füllte den Türrahmen aus. Seine Augen glänzten rot, als er an seiner Pfeife zog und die Glut aufglomm.
    Jule schüttelte den Kopf.
    »Das Essen ist fertig«, brummte er. »Wenn Sie wollen …« Er drehte sich halb zur Seite und wies ins Haus hinein. »Es ist genug da.«
    »Ja, gern«, sagte Jule, obwohl sie keinen nennenswerten Appetit hatte.
    Das Abendessen verlief in einer Atmosphäre surrealer Normalität: Eva sah sich wegen Jules vorheriger Notlüge angehalten, eine lange Ausführung über Männer und deren Vorzüge und Nachteile zu halten. Malte schaufelte schweigend und zügig eine riesige Portion Steckrüben in sich hinein. Nachdem sein Hunger gestillt war, fing er wieder an, Fotos zu knipsen. Jule lächelte, wie es von ihr erwartet wurde. Sie fragte sich dabei die ganze Zeit, ob sie die verunstaltete Barbie erwähnen sollte. Sie verzichtete darauf. Es reichte, wenn nur sie gute Laune vorgaukeln musste. Sie brauchte nicht auch noch den Jepsens den Abend zu verderben.
    Bei der Partie Rommé, zu der sie Eva nach dem Essen breitschlug, schweifte Jules Blick immer wieder zu den Puppen auf den Regalen. Inzwischen war sie sicher, weshalb die Münder der künstlichen Kinder so grotesk verzerrt waren: nicht in glockenhellem Gelächter, sondern in gepeinigten Schreien, die stumm bis in alle Ewigkeit in die Welt hinaushallten.

69
     
    Erich Fehrs sah aus wie tot. Er lag im hintersten Winkel seines weitläufigen Gartens vor einer wuchernden Brombeerhecke, deren Ranken bereits an der Rückwand eines alten Bretterschuppens emporkletterten. Arme und Beine hatte er so von sich gestreckt, dass er ein nahezu perfektes X bildete. Seine graue Strickjacke war an den Ellenbogen durchgescheuert, und man konnte die

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