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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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Fingern wie ein böser Schatten näherte. Sie sah eine trostlose Zukunft voller Hunger.
    Jeden Tag kam sie in der Abenddämmerung nach Hause. Pa saß noch an der Schreibmaschine, während Ma ihre Füße ausruhte, nachdem sie den ganzen Tag in der Wäscherei gearbeitet hatte. Sie sprach nicht mit Worten zu Pa, aber mit den Augen, und flehte ihn schweigend an, sich endlich eine richtige Arbeit zu suchen. Beattie zog sich zurück, ohne dass die beiden sie bemerkten.
    Cora meldete sich nicht bei ihr, um sich nach ihr zu erkundigen. Beattie staunte selbst, wie traurig sie darüber war. War die Freundschaft mit Cora so oberflächlich gewesen? Cora hatte nicht ein einziges Mal nach ihrem Befinden gefragt, nachdem Beattie ihre Schwangerschaft eingestanden hatte, oder Hilfe angeboten. Es war, als hätte sie Beatties Notlage völlig vergessen. Und nun schien sie auch Beattie vergessen zu haben.
    Sie wartete. Wartete auf Henry. Wartete darauf, dass ihre Eltern ihre Arbeitslosigkeit bemerkten. Sie wartete, dass ihr Bauch so dick würde, dass sie ihn nicht mehr unter den Kleidern verbergen konnte. Sie wartete auf die Folgen.
    Und dann, eines Morgens, war es so weit.
    Beattie stieg gerade aus der angeschlagenen Emaillewanne mit den rostigen Wasserhähnen, als ihre Mutter hereinkam.
    Natürlich mit Absicht. Sie musste schon länger einen Verdacht gehegt haben und hatte Beattie im Bad abgepasst. Der Riegel an der Tür funktionierte seit Monaten nicht, doch alle Bewohner ließen die Pantoffeln vor der Tür stehen, damit die anderen Bescheid wussten.
    Beattie keuchte auf und griff nach einem Handtuch. Nackt konnte sie ihren Zustand nicht verbergen. Ma trat die Tür hinter sich zu und riss das Handtuch weg. Dann ergriff sie Beatties Hände und zog sie auseinander.
    »Ma …«
    Ihre Augen wanderten von der Kehle bis zu den Oberschenkeln über Beatties Körper. Dann ließ sie die Hände fallen und sah ihrer Tochter endlich ins Gesicht.
    »Es tut mir leid, Ma«, sagte Beattie, doch in den Augen ihrer Mutter las sie kein Mitleid, nur Panik.
    »Du musst weg.«
    »Nein! Du kannst mich nicht hinauswerfen, Ma.«
    »Dein Vater darf es nie erfahren. Die Schande. Die
Schande.
« Ihre Mutter flatterte mit den Händen, als wären es gefangene Vögel. »Zieh dich an. Geh.«
    Beattie wickelte sich in das Handtuch, ihr Herz schlug bis zum Hals. »Ich kann nirgendwo hin.«
    »Ist mir egal!« Mas Stimme klang hysterisch. »Dein Vater würde vor Scham sterben. Er bekommt nie mehr eine anständige Stelle, wenn bekannt wird, dass seine Tochter eine … eine …« Ihr fehlten die Worte, dann überkam sie ein heftiger Hustenanfall.
    »Aber ich …«
    Ma erstickte Beatties Protest mit einer Ohrfeige. Diese blickte ihre Mutter an und sah die Panik in deren Augen.
    »Ma?« Sie war den Tränen nahe. Wollte die Hände ihrer Mutter ergreifen, doch die stieß sie entschieden weg.
    »Nein, lass mich. Es ist schwer genug.«
    Plötzlich überfiel sie eine Erinnerung an Ma, wie sie ihr morgens vor der Schule die Haare kämmte, Schnee vor dem Fenster, Mas warme Hände, ihre zitternde Stimme, mit der sie ein altes schottisches Volkslied sang. Die Erinnerung stand in einem solchen Gegensatz zu diesem Augenblick, dass Beatties Magen sich verkrampfte. »Das kannst du nicht tun«, keuchte sie. »Ich bin deine Tochter.«
    »Nein«, erwiderte Ma grimmig. »Das bist du nicht. Wir haben keine Tochter.«
    * * *
    Die Luft draußen war dick und ölig. Beattie hatte sich angezogen und trug die Handtasche bei sich, die ihre Mutter ihr im Treppenhaus hinterhergeworfen hatte. Ansonsten floh sie mit leeren Händen aus dem Mietshaus. Einige Straßen weiter blieb sie stehen, mit flatterndem Puls, unsicher, wohin sie sich wenden sollte. Zu Henry ins Büro gehen und ihn um Hilfe anflehen? Zu Granny nach Tannochside mit dem nassen Garten, in dem mehr Moos als Gras wuchs? Oder in die wärmste, trockenste Gasse, die sie finden konnte, um sich auf ihren endgültigen Untergang vorzubereiten? Lange, entsetzliche Minuten stand sie da, und es war, als könnte sie die Drehung der Erde spüren, als hielte sie sich nur mühsam auf ihr fest.
    Nur ein Mensch konnte ihr jetzt noch helfen. Cora.
    Beattie war noch nie bei ihr zu Hause gewesen, wusste aber, wo sie wohnte. Henry hatte ihr das Haus eines Nachts auf dem Heimweg gezeigt. Ein honigfarbenes Stadthaus aus Sandstein in der Woodlands Terrace. Coras Vater war ein Schiffsmagnat, der auch ein Landhaus besaß. Beattie versuchte, nicht daran zu

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