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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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fahre nächste Woche nach Hause, und das Leben geht weiter. Gott sei Dank.« Sie schob Beatties Hände weg und zog die Decke über sich.
    »Hat es weh getan?«
    »Höllisch.« Sie gähnte. »Ich bin müde, Beattie. Lässt du mich jetzt bitte schlafen?«
    Beattie kehrte wieder ans Fenster zurück und lehnte die Stirn an das kühle Glas. Bei ihr würde es noch Monate dauern, doch die Angst war schon da. Delias Baby war weg. Das zappelnde Bündel Leben, das mit ihr verbunden gewesen war, befand sich nun in fremder Obhut, und ihr Bauch war leer. Bei dem Gedanken musste Beattie weinen, und sie ließ die Tränen still über ihr Gesicht rinnen und von ihrem Kinn tropfen. Eigentlich weinte sie gar nicht um Delia. Sie weinte um sich selbst.
     
    Das graue Meer war aufgewühlt, und dicker Schaum lag in Streifen auf dem Sand, als die Mädchen ihren Spaziergang unternahmen. Beattie schaute zum bleiernen Himmel empor und hielt ihren Hut in dem stürmischen Wind fest. Bestimmt würde es regnen, was ihren Ausflug verkürzte. Man würde sie vorzeitig nach Morecombe House zurückschicken. Vielleicht bekamen sie für ihre Sünden zusätzliche Bibelstudien aufgebrummt.
    »Genießt die frische Luft, Mädchen«, rief die Oberin, als sie über den Strand ausschwärmten. Diejenigen, die kurz vor der Geburt standen, schauten erschöpft und ängstlich auf die grauen Wellen. Wer sich noch am Anfang der Schwangerschaft befand, lief zum Wasser und tauchte die Zehen hinein. Die Mädchen dazwischen, so wie Beattie, wanderten am Strand entlang und suchten Muscheln oder bunte Glasscherben, die angespült worden waren. Beattie war entschlossen, die Zeit draußen zu nutzen, und schritt energisch über den feuchten Sand. Die Seeluft und ihr Herzschlag vertrieben die Spinnweben, die ihren Verstand verschleierten, solange sie in den mit Linoleum ausgelegten Zimmern saß, in denen es nach Kohl roch.
    Dann entdeckte sie eine Gestalt in der Ferne. Sie achtete nicht auf sie, bis diese die Hand hob, als wolle sie ihr zaghaft winken. Sie ging langsamer. Sah genauer hin. Es war ein Mann im grauen Anzug, dessen Gesicht von seinem Hut verdeckt wurde. Er winkte, daran bestand kein Zweifel.
    Sie drehte sich um. Die anderen Mädchen waren ein ganzes Stück entfernt, und keines von ihnen beachtete den Mann. Sie wandte sich wieder nach vorn, und ihr Herz begann zu tanzen. Es erkannte ihn früher als ihre Augen.
    Henry.
    Beattie erstarrte. Sie konnte nicht einfach zu ihm laufen; die Oberin würde es sehen. Aber sie konnte ihn auch nicht ignorieren.
    In ebendiesem Moment teilten sich die Wolken, und es fing an zu regnen. Die Stimme der Oberin erhob sich laut über den Wind. »Kommt zurück, Mädchen. Wir müssen sofort ins Haus.«
    Zurück ins Haus? Wie konnte sie? Da stand Henry, nur hundert Meter entfernt, im Regen.
    »Jemand soll Beattie holen! Um der Liebe Gottes willen, Beattie, wir warten alle auf dich!«
    Eine Hand schloss sich um ihren Arm. Es war eines der neuen Mädchen; Beattie hatte ihren Namen vergessen. »Komm schon«, sagte sie mit einem starken nordenglischen Akzent, »wir holen uns hier im Regen noch den Tod.« Beattie schüttelte ihre Hand ab und schaute wieder zu Henry.
    Er war verschwunden.
    »Komm jetzt«, sagte das Mädchen.
    Die anderen eilten schon vom Strand, während die Oberin wütend mit ihren fleischigen Armen fuchtelte. Sie blickte noch einmal zurück, doch es war niemand zu sehen.
    Und wenn es dann gar nicht Henry gewesen war? Wenn nur ihr verzweifeltes Herz sein Bild heraufbeschworen hatte?
    Sie wischte ihre zornigen Tränen weg und stapfte zu den anderen hinüber. Sie holte sie ein, als sie gerade die Straße überquerten. Hinter dem Pavillon parkte ein schwarzer Austin, der genauso aussah wie der von Teddy Wilder.
    Beattie schüttelte sich. Viele Männer fuhren einen schwarzen Austin. Dennoch verspürte sie neue Hoffnung. Der Regen war stärker geworden, und die Oberin hielt sich einen schwarzen Schirm über den Kopf. Niemand beobachtete sie. Nicht in diesem Moment …
    Beattie löste sich von der Gruppe und eilte zurück zum Strand. Niemand rief ihr etwas nach. Sie rannte, so schnell es ihr unbeholfener Körper erlaubte, und wurde langsamer, als sie sich allein auf dem Sand wiederfand.
    Graues Meer, grauer Himmel, niemand zu sehen. Kein Henry. Er kam nicht. Er würde niemals kommen.
    Und dann, einen Herzschlag später, veränderte sich alles. Er rief ihren Namen.
    »Beattie!«
    Sie drehte sich um. Er stand am Hang und winkte sie zu

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