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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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mit den Kindern durchs Wohnzimmer. Beattie war in ihrem Büro, von dem aus sie auf den Hafen blickte, und versuchte, ihre überfällige Korrespondenz zu erledigen. Das Telefon klingelte. Sie überlegte, ob sie einfach nicht drangehen sollte, doch es könnte Ray von unterwegs sein.
    »Hallo?«
    »Beattie Blaxland?«
    »Ja«, sagte sie argwöhnisch.
    »Ich heiße Tilly Harrow. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.«
    Und ob sich Beattie an sie erinnerte. Sie erinnerte sich an alle Leute aus Lewinford, wie sie sie behandelt und welche Geschichten sie über sie verbreitet hatten. Sie hatten dazu beigetragen, dass sie Lucy verloren hatte, dessen war sie sich ganz sicher. Doch sie erwähnte es nicht. »Natürlich erinnere ich mich, Tilly.«
    Es folgte ein langes Schweigen. Sie fragte sich schon, ob die Leitung tot war. Dann holte die Frau tief und schluchzend Luft.
    »Was ist los?«
    »Können Sie mir helfen? Wir haben die Farm erst ein Jahr, und es läuft nicht gut. Wir haben die Tiere zusammengetrieben und festgestellt, dass wir irgendwie tausend Schafe verloren haben. Wie kann das sein?«
    »Sind sie tot?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Tilly, ich bin gerade sehr beschäftigt.« Sie tippte mit dem Stift auf den Schreibtisch und überlegte, wie sie die Frau loswerden könnte. »Als ich die Farm noch selbst betrieben habe, hatte ich immer verlässliche Hilfe. Fachkundige Beratung. Wer ist denn der Verwalter?«
    »Frank macht es selbst.«
    »Hat er denn Fachleute, die er um Rat fragen kann? Einen Mann, der sich mit dem Land auskennt?«
    Tillys Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Er nimmt einfach keinen Rat an. Es hat lange nicht geregnet, der Fluss trocknet aus. Die Schafe lammen nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir sind mit den Zahlungen an die Bank im Verzug.«
    Beattie verspürte ein leises Schuldgefühl. Sie hatte einen furchtbar hohen Preis verlangt und wohnte in einem Haus, das sie teilweise davon bezahlt hatte. »Tilly, es tut mir leid, dass Sie in Schwierigkeiten sind. Sie müssen Frank davon überzeugen, dass er sich Hilfe besorgt. Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.«
    Tilly holte schluchzend Luft. »Ich werde es versuchen.«
     
    Drei Jahre Dürre mussten die Harrows ertragen. Leo Sampson erzählte, dass praktisch jede Regenwolke an der Farm vorbeizog und auf den Feldern ihrer Nachbarn und über der Stadt abregnete. Anfang 1955 erfuhr Beattie, dass Frank Harrow sich erhängt hatte und Tilly als gebrochene Frau nach Südafrika zurückgekehrt war. Sie empfand kein Mitleid mit den beiden.
    Vielleicht hatte das Land seine eigene Gerechtigkeit ausgeübt.
     
    Der Zug war immer noch nicht da. Beattie spürte eine leise Erregung im Herzen. Wenn das nun ein Zeichen war, dass sie nicht fahren sollte?
    Sie stand auf und ging noch einmal zum Fahrkartenschalter. Der Regen hatte nachgelassen, und schwaches Sonnenlicht brach durch die Wolken und brachte die öligen Pfützen zum Glänzen. »Gibt es etwas Neues über den Zug nach Glasgow?«
    »Noch mindestens zwanzig Minuten. Trinken Sie doch eine Tasse Tee.«
    Sie trat auf die Straße und blieb zögernd vor einem Café stehen. Betrachtete ihr Spiegelbild. Sie war gut gekleidet und immer noch schlank, doch alle Spuren der alten Beattie, die stets im Morgengrauen aufstand, waren verschwunden. Sie war eine respektable Frau aus der Mittelschicht, die Besitzerin eines Modeimperiums und Ehefrau eines Parlamentsabgeordneten. Was würde sie in Glasgow finden? Herzweh: ganz sicher. Die Liebe ihrer Tochter: vermutlich nicht. Es war zu lange her. Außerdem bestand die Gefahr, dass die Sache bekannt wurde. Sollte Ray herausfinden, dass sie ihm zwanzig Jahre lang ein Kind verschwiegen hatte, würde ihre Ehe zerbrechen.
    Beattie kehrte dem Bahnhof und ihrem törichten Plan den Rücken.
     
    »Du bist hier?«
    Beattie blickte auf. Sie saß in einem Sessel vor dem Hotelfenster.
    Ray kam ins Zimmer und küsste sie. »Was für eine nette Überraschung. Sollen wir essen gehen?«
    »Ich glaube, ich muss für eine Weile nach Hause.«
    Er sah sie verwundert an. »Wir fliegen doch Ende nächster Woche nach Hause.«
    »Tut mir leid, ich meinte Tasmanien. Ich … ich möchte zurück nach Wildflower Hill.«
    »Du weißt, wir können nicht umziehen. Ich vertrete den Wahlbezirk Mortondale, das kann ich kaum vom tasmanischen Hinterland aus erledigen.«
    Sie blickte ihn an und sah einen Moment lang einen Wildfremden. War sie wirklich seit über zwanzig Jahren mit ihm

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