Der Wind der Erinnerung
mit Charlie zusammen gewesen. Nachdem er gestorben war, hatte sie angenommen, sie würde nie heiraten.
»Warum jetzt?«
»Der Krieg ist vorbei. Das Leben geht weiter.«
Aus irgendeinem Grund machte der Gedanke sie furchtbar traurig. Das Leben ging in der Tat weiter. Und es sah aus, als würde es das ohne ihre Tochter tun. Lucy war jetzt sechzehn, ihre Kindheit vorbei. Beattie hingegen sehnte sich nach der kleinen Lucy mit dem zarten Körper und den vertrauensseligen Augen. Sie sehnte sich nach etwas, das es nicht mehr gab.
»Ich bin nicht die, für die du mich hältst.«
»Und ob«, konterte er.
»Ich … Meine Vergangenheit ist nicht so …«
»Hattest du Liebhaber? Das habe ich schon gemerkt, als ich dich zum ersten Mal geküsst habe. Ich hatte auch Geliebte. Aber jetzt bin ich bei dir.«
Seine Antwort überraschte sie. »Aber dein Ruf …«
»Beattie, wir sind beide über dreißig. Niemand in der Regierung erwartet, dass ich eine Jungfrau heirate.«
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
»Wir können lange verlobt bleiben. Solange du möchtest. Es besteht kein Grund zur Eile. Aber ich möchte mit dir alt werden, Liebling. Bitte lass mich glauben, dass dieser Traum in Erfüllung gehen kann.«
Sie brach in Tränen aus.
»Komm schon. Du wirst doch nicht wieder nein sagen, oder?«
»Ja. Ich meine, nein. Ich werde nicht nein sagen. Ich sage ja.«
Er ging zu ihr, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Ich werde gut für dich sorgen, Liebling. Ich lasse dich nie im Stich.«
Beattie wollte es ihm so oft sagen. Vor ihrer Verlobungsparty, nach ihrer Verlobungsparty. Bevor sie das erste Mal miteinander schliefen, nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Aber sie schob es immer weiter hinaus. In der Zwischenzeit schrieb sie an alle Leute, die sie in Glasgow kannte, und erkundigte sich nach den MacConnells. Am Ende hatte sie sechzehn verschiedene Adressen von Henry MacConnells, die im Umkreis von Glasgow wohnten. Sie schrieb an alle und erhielt keine einzige Antwort.
Sie hatte auf jeden Fall vor, es Ray vor der Hochzeit zu erzählen, die im folgenden Juli stattfinden sollte. Doch dann kam eine Wahl dazwischen, und er war plötzlich nicht mehr der fröhliche, unbekümmerte Ray. Er hatte ständig zu tun, war nur in der Öffentlichkeit charmant und privat angespannt; außerdem war er dauernd erschöpft. Beattie fragte, ob er die Hochzeit lieber verschieben wolle, doch er sagte, er wolle vor der Wahl heiraten, und so erklärte sie sich mit einer bescheidenen Trauung im Standesamt einverstanden. Die ganze Zeit jedoch hatte sie Angst davor. Furchtbare Angst.
Du musst es ihm sagen.
Doch sie hatte nicht mit den Briefen gerechnet. Zwei von ihnen trafen am selben Tag ein. Mit der gleichen Briefmarke. Beide ohne Absender. Unterschiedliche Handschrift. Eine davon war Mollys.
Beattie war zu Hause, da sie sich einen seltenen Urlaubstag gönnte. Sie war barfuß und genoss die Sonne, die morgens ins Zimmer fiel. Mit den Briefen in der Hand ging sie zum Sofa, doch die Sonne wirkte plötzlich nicht mehr so warm.
Zuerst öffnete sie den von Molly. Entfaltete ihn langsam.
Liebe Beattie,
wir sind uns bewusst, dass du versucht hast, uns zu finden, und bitten dich mit allem Respekt darum, keinen Kontakt mehr zu uns aufzunehmen. Wir sind glücklich und zufrieden und haben nicht den Wunsch, an die schweren Zeiten in Australien erinnert zu werden. Lucy wächst zu einer hübschen jungen Frau heran, und es ist wichtig, dass ihre Freunde und möglichen Verehrer weiterhin glauben, ich sei ihre leibliche Mutter. Ich weiß, dass sie dir genug am Herzen liegt, um sie loszulassen.
Alles Gute, Molly
Beattie wollte den Brief schon wütend zerknüllen, als sie bemerkte, dass noch etwas im Umschlag steckte. Zwei kleine Fotos fielen ihr in den Schoß.
Sie hielt die Luft an. Es war Lucy. Eine junge Frau, die ernst in die Kamera schaute. Mit Henrys üblichem Gesichtsausdruck. Das andere war ein Familienfoto. Molly war stark gealtert, das musste an ihren Schuldgefühlen liegen. Verdammt, sollte sie sich doch bis ans Ende ihres Lebens schuldig fühlen …
bitten dich mit allem Respekt darum, keinen Kontakt zu uns aufzunehmen
… Wie konnte sie es wagen? Und was für eine Mutter wäre sie, wenn sie ihre Tochter so einfach aufgäbe?
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem anderen Umschlag zu. Vielleicht kam er von einer der Familien, die sie angeschrieben hatte.
Aber nein, er stammte von Lucy
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