Der Wind der Erinnerung
ganzer Körper schmerzte. Es war ungerecht, dass sie alt werden musste! Sie interessierte sich nicht für ihre Firma, ihren Reichtum oder das elegante Haus am Hafen. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn es auf ewig 1939 sein könnte.
An einem schönen Morgen beschloss Beattie, sich in die Stadt zu wagen. Sie hatte die Lebensmittel aufgebraucht, die sie aus Hobart mitgebracht hatte. Obwohl seit ihrem letzten Besuch fünfundzwanzig Jahre vergangen waren, schlug ihr Herz schneller, als sie sich Lewinford näherte.
Der Ort war jetzt größer, die Straße gepflastert. Viele alte Gebäude sahen aber noch so aus wie früher. Das Postamt, der Kolonialwarenladen, das Pub. Leo Sampsons Büro war heute ein Laden mit Nippes und anderem Kleinkram, der Anwalt war 1959 gestorben. Beattie holte tief Luft und betrat den Kolonialwarenladen.
Es war wie eine Zeitreise. Die hölzernen Regale, die lange Glastheke, die aufgestapelten Mehlsäcke. Doch hinter der Theke stand nicht Tilly Harrow mit verächtlich geschürzten Lippen, sondern ein Mann mittleren Alters mit rotem Gesicht. Er lächelte breit.
»Hallo, Fremde«, sagte er.
Sie lächelte nicht, blieb ein bisschen argwöhnisch. Wenn er nun herausfände, wer sie war …? Doch sie schüttelte den Kopf. Es war viel Zeit vergangen. »Hallo, ich komme von Wildflower Hill.«
Sie wartete, machte sich auf Ablehnung gefasst.
»Wildflower Hill? Sind Sie die neue Pächterin?«
»Eher die Eigentümerin.«
Er machte große Augen. »Tatsächlich? Sie sind Beattie Blaxland? Sie … Augenblick mal. Ich muss meine Frau holen.« Er eilte zur Treppe und rief laut: »Komm mal runter, Annie! Du wirst nicht glauben, wer in der Stadt ist!«
Beattie wurde rot vor Freude. Kurz darauf kam eine große blonde Frau die Treppe herunter.
»Was ist denn los?«
»Sieh mal, das ist Beattie Blaxland.«
Annie lächelte und gab ihr die Hand. »Sie sind es wirklich!«
»Ich nehme an, Sie kennen meine Kleider«, sagte Beattie stolz.
»Ihre Kleider? Natürlich, die gefallen mir gut, aber wir kannten Sie schon, als Sie noch nicht berühmt waren.«
»Wirklich?«
»Kommen Sie mit nach oben, wir trinken Tee.«
Am liebsten hätte Beattie gelacht. Mit diesem Empfang hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Sie folgte Annie hinter die Theke und die Treppe hinauf in ein gemütliches Wohnzimmer mit vielen Blumenmustern.
Annie stellte den Wasserkessel auf den Herd und setzte sich zu ihr. »Mein Vater … Verzeihung, mein Stiefvater, hat für Sie gearbeitet. Mikhail Kirilliv.«
»Mikhail! Er war Ihr Stiefvater? Dann sind Sie die Tochter von Catherine?«
»Ja, das bin ich. Nicht zu fassen, dass Sie sich an Mums Namen erinnern.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Die beiden waren viele Jahre sehr glücklich miteinander.«
»Ist er …?« Beattie brachte es nicht über sich, das Wort auszusprechen.
»Tot? Oh, ja. Mum ist 1958 gestorben, und er sagte, er wolle hierher zurück. Er hat die Gegend sehr vermisst. Aber er war schon sehr alt und nicht gesund, also sind wir mit ihm gefahren. Wir haben uns in die Landschaft verliebt, und dann wurde dieses Geschäft hier zur Pacht angeboten. Dad ist 1961 gestorben, hier in seinem Schlafzimmer.« Sie deutete mit der Hand in die Richtung. »Ganz friedlich. Möchten Sie ein paar Familienfotos sehen?«
»Sehr gern.«
Annie trat an ein überfülltes Bücherregal und holte zwei Alben heraus. »Hier, die können Sie sich anschauen. Ich kümmere mich um den Tee.«
Beattie fing mit den neueren Fotos an und blätterte die Seiten behutsam um. Mikhail – gebeugt und mit weißen Haaren, aber immer noch unverkennbar – lächelte ihr entgegen. Auf vielen Fotos waren Annie und ihr Mann zu sehen und Kinder, die mit den Seiten größer wurden. Da nahm sie das andere Album. Es fiel schon auseinander, und die Fotos waren in die Spalte zwischen den Seiten gerutscht, weil die weißen Klebeecken nicht mehr richtig hafteten.
Sie versuchte, sie zu sortieren. War überrascht, als sie auf einem Foto das Wohnzimmer von Wildflower Hill mitsamt Weihnachtsbaum wiedererkannte.
Es musste unmittelbar vor Mikhails Auszug aufgenommen worden sein. Jetzt erinnerte sie sich, dass Catherine einen Fotoapparat dabeigehabt hatte. Mikhail hatte sie gebeten, einige Bilder von der Farm zu machen, damit er ein Andenken hatte. Konzentriert besah sie sich ein Foto nach dem anderen.
Da war er. Da war Charlie. Eine Gestalt auf einem Pferd, der Hut verdeckte größtenteils sein Gesicht. Dennoch setzte ihr
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