Der Wind der Erinnerung
Herz eine Sekunde lang aus.
»Haben Sie etwas gefunden, was Ihnen gefällt?« Annie war mit dem Teetablett hereingekommen.
Sie hielt ihr das Foto hin. »Das ist Charlie Harris.«
»Dad hat viel über ihn gesprochen. Sie waren enge Freunde. Wenn Sie möchten, können Sie es haben. Ich brauche es nicht mehr.«
»Wirklich?« Ihr Gesicht wurde ganz warm.
»Natürlich. Nehmen Sie sich ruhig die alten Fotos von Wildflower Hill.«
»Nein, nein. Sie sollen doch die Erinnerungen an Ihren Stiefvater behalten. Aber dieses hier hätte ich gern. Er war … etwas Besonderes für mich.« Ihr Herz schlug viel zu heftig.
Annie goss ihnen Tee ein, und Beattie erkundigte sich nach den anderen Einwohnern, deren Namen sie noch wusste. Annie kannte keinen von ihnen. Irgendwann beschloss Beattie, dass es an der Zeit war, einzukaufen und nach Hause zu fahren.
Dann kam ihr eine Idee. »Annie, eine Zeitlang wird niemand auf Wildflower Hill wohnen, aber ich werde einige Kisten herschicken, die ich unterstellen möchte. Wenn ich Ihnen den Schlüssel gebe, würden Sie dann ab und zu nach dem Rechten sehen? Ich bezahle auch dafür.«
»Wenn es ein bezahlter Job ist, würde ich ihn gern meinem Sohn überlassen. Er ist siebzehn und möchte sich etwas verdienen. Er könnte Staub wischen und den Garten für Sie in Ordnung halten.«
»Das wäre wunderbar«, sagte Beattie. Vielleicht würde das Haus bei ihrem nächsten Besuch nicht so vernachlässigt wirken.
Falls
es einen nächsten Besuch gab. »Wie heißt er denn? Dann schreibe ich ihm einige Anweisungen auf.«
»Andrew«, sagte sie. »Andrew Taylor. Sie können sich auf ihn verlassen.«
Als sie nach Hause kam, heftete Beattie das Foto von Charlie an die Wand neben ihrem Bett. Aus irgendeinem Grund vertrieb es die Visionen. Das machte sie traurig, aber sie nahm es dennoch nicht herunter. Ihr Kummer war weniger furchteinflößend, wenn er in dem weißen Rahmen des Fotos gefangen war.
Beattie erkannte, dass sie zum Trauern nach Wildflower Hill gekommen war. Nicht nur um Charlie und Lucy, um die sie schon sehr lange getrauert hatte. Sie betrauerte den Verlust ihrer Jugend, das Schwinden der Möglichkeiten, weil das Leben in festen Bahnen verlief und so war, wie es war, und nicht so, wie es hätte sein können. Sie hörte nichts als die Stille des Landes, und mit der Zeit wurde ihr Kummer kleiner, und sie konnte endlich erkennen, welches Glück sie gehabt hatte. Einen Ehemann, zwei lebhafte Kinder, die Gelegenheit, ihre kreativen Träume zu verwirklichen. Charlie erschien nicht mehr unter ihrem Fenster, und zu ihrer Überraschung wurde sie ruhelos, weil sie zurückwollte nach Sydney, zurück zu Ray, Mike und Louise. Sie war ungeheuer erleichtert.
Eines Nachts, zwei Tage vor ihrer Heimkehr, hatte sie einen Traum.
Lucy kam darin vor. Sie war etwa acht Jahre alt: glänzende Augen, blasse Sommersprossen im Gesicht, süßer, warmer Atem. Sie stand unmittelbar vor Beattie, die sich hingekniet hatte, um ihren Gürtel zu schließen.
»Mein Liebling«, sagte Beattie.
»Wer bist du?«, fragte das Kind.
»Ich bin deine Mutter.« Die Unwissenheit schmerzte unerträglich.
»Und bist du das für immer? Bis die Sterne erlöschen und die Stille kommt?«
»Ja! Ja, ich …«
Beattie erwachte, bevor sie die Worte aussprechen konnte. Weinend stand sie auf. Es war noch dunkel und früh am Morgen. Sie zog ihren Morgenmantel über und ging ins Arbeitszimmer.
Dort schrieb sie einen Brief. Sie legte all ihre Gefühle hinein, alles, was sie dem kleinen Mädchen aus ihrem Traum sagen wollte und der erwachsenen Frau, zu der Lucy geworden war, nie hatte sagen können; der Frau, die sie gebeten hatte, sie in Frieden zu lassen. Sie schrieb und schluchzte dabei, bis ihre Rippen schmerzten. Dann steckte sie den Brief in einen Umschlag. Sie adressierte ihn sogar – die Anschrift hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt –, obwohl sie ihn natürlich nicht absenden würde. Ihn zu schreiben hatte gereicht. Sie überlegte, was sie damit anfangen sollte. Es wäre nicht recht, ihn zu verbrennen oder wegzuwerfen, also legte sie ihn zu einigen anderen Andenken, die Ray nicht sehen sollte, und schickte sich an, in ihr Leben in Sydney zurückzukehren.
Am Morgen ihrer Abreise schloss sie das Haus ab und ging zum Eukalyptusbaum. Er war wunderschön gewachsen – groß und kräftig wie Charlie –, und der Gedanke, dass er noch lange nach ihrem Tod hier stehen und über Wildflower Hill wachen würde, machte sie
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