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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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verheiratet? Hatte sie so lange ein Bett mit ihm geteilt? Hatte sie Kinder mit ihm? Wie hatte sie soviel mit ihm teilen und ihm dennoch niemals von den beiden größten Verlusten erzählen können, die sie erlitten hatte: zuerst ihre Tochter, danach ihr Seelengefährte? Dann wurde er ihr wieder vertraut, war wieder ihr Ray, der immer gut zu ihr gewesen war.
    »Ich glaube, ich muss alleine dorthin«, sagte Beattie leise.
    »Ohne uns?«
    »Du bist doch auch immer unterwegs.«
    »Zum Arbeiten.«
    »Ich werde auch arbeiten. Die Kinder sind groß genug und pflegeleicht.« Sie hasste sich, als sie den Schmerz in seinem Gesicht sah. »Es tut mir leid, Ray, aber es wird uns guttun. Das weiß ich.«
    »Willst du mich verlassen?«
    »Nein«, sagte sie rasch. »Aber ich brauche ein bisschen Zeit und Raum zum Nachdenken, zum Alleinsein.« Um endlich mit einigen Erinnerungen abzuschließen.
    »Natürlich, wenn du es brauchst. Natürlich.« Er berührte zärtlich ihre Haare. »Ich liebe dich, Beattie. Ich liebe dich so sehr. Ich bin froh, dass du hier bist und nicht in Glasgow.«
    Beattie sagte nichts, weil sie fürchtete, sonst in Tränen auszubrechen.

[home]
    Dreißig
    W ildflower Hill war vertraut und doch anders als in ihrer Erinnerung. Es wirkte größer. Die Bäume waren viel höher als früher, das Schererhäuschen schien weiter vom Haupthaus entfernt. Doch das Licht über den Feldern, das Rascheln der Blätter an den Eukalyptusbäumen und der Lärm, den Stare und Spatzen in der Abenddämmerung veranstalteten, waren genau wie früher.
    Das arme Haus wirkte dunkel und vernachlässigt. Der alte Kühlschrank hatte vor langer Zeit den Geist aufgegeben. In der Waschküche standen immer noch der Kupferkessel und die Mangel, während Beattie an ihre Waschmaschine mit getrennter Schleuder von Rolls Razor gewöhnt war. In den ersten beiden Tagen mühte sie sich mit den Unzulänglichkeiten des Hauses ab, sagte sich dann aber, sie sei doch eine reiche Frau. Worauf sie zweimal in Hobart anrief und einige Geräte bestellte. Danach machte sie sich daran, das Haus zu putzen, neue Vorhänge zu nähen und sich um kleinere Reparaturen zu kümmern.
    Beattie wollte Wildflower Hill in Ordnung bringen, weil es ihr einmal viel bedeutet hatte und daher verdiente, dass man es pflegte. Oder ließ sie sich zu häuslich nieder? Nachdem sie jahrelang hart gearbeitet hatte – eine Firma geleitet, Kinder großgezogen hatte und die perfekte Frau eines Politikers gewesen war –, genoss sie es, eine Pause einzulegen und nur sie selbst zu sein. Sie merkte, dass sie sich schon nach wenigen Wochen jünger fühlte. Spielte sie etwa mit dem Gedanken, Ray zu verlassen?
    Möglicherweise.
    Sie telefonierte jeden Abend mit ihm, und ihre Stimme klang ruhig und gelassen, während in ihrem Inneren die Gefühle tobten. Die Kinder wollten mit ihr sprechen. Mikey war wie immer ein fröhlicher Sonnenschein. Louise wirkte vorsichtiger, und ihre Worte waren von einer dunklen Ironie gefärbt. Sie wusste Bescheid. Sie wusste, dass sie weggefahren war, um ihre Zukunft zu überdenken. Und war nicht glücklich damit.
    Wenn sie nachts wach lag und an ihre Kinder dachte, waren die Schuldgefühle am schlimmsten. Sie dachte nicht nur an Michael und Louise, sondern auch an Lucy. Manchmal träumte sie von einem Wiedersehen, schalt sich dann aber wegen ihrer Dummheit. Sie war nicht die erste Frau mit einem geheimen unehelichen Kind und würde kaum die letzte sein. Dennoch dachte sie immer öfter an ihre eigene Sterblichkeit und das Vermögen, das sie hinterlassen würde. Wäre es denn nicht ungerecht, es nur an Michael und Louise zu vererben? Würde Lucy sich überhaupt an sie erinnern? Abends schlief sie meist mit diesen Fragen ein, Fragen, die sie noch immer nicht beantworten konnte.
     
    Draußen, unmittelbar vor ihrem Schlafzimmerfenster, war Charlie. Er war das Erste, was sie jeden Morgen sah, wenn sie die Vorhänge öffnete, und das Letzte, wenn sie sie abends wieder schloss. Eigentlich war es nur ein Baum. Aber er war dennoch da. Sie konnte ihn
spüren,
ihn sehen, als stünde er vor ihr. Natürlich hatte er sich nicht verändert. Sein Haar war noch dicht und schwarz, sein Körper schlank und kräftig. Wenn sie in solchen Momenten die Augen schloss, konnte sie ihn sogar riechen und verspürte eine so durchdringende Sehnsucht – wieder jung zu sein, in der Zeit zu leben, bevor alles zerbrochen war, verliebt zu sein und ihr kleines Mädchen bei sich zu haben –, dass ihr

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