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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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jenen Tagen, an denen das Leben mit Henry am schwersten war – wenn er spät und betrunken nach Hause kam, wenn er sie schikanierte, weil sie den Bäcker angelächelt hatte, wenn er mit den Fäusten auf den Küchentisch hieb und ihr Herz heiß wurde, weil sie wusste, dass er am liebsten sie geschlagen hätte –, durfte sie nicht einmal davon träumen, ihn mit Lucy zu verlassen. Dieses Kind würde sich niemals von ihm trennen.
    Während ihre Tochter aß, schaute Beattie wieder und wieder zu dem Umschlag. Vielleicht waren es ja gute Neuigkeiten. Vielleicht hatte Molly einen anderen Mann kennengelernt und wollte sich endlich scheiden lassen. Vielleicht hatte sie monatelang nach Henry gesucht, um ihn freizugeben. Doch Beattie konnte ihre Angst nicht unterdrücken.
    Lucy schob den leeren Teller weg. »Können wir jetzt im Garten spielen?«
    »Nein, wir müssen einkaufen. Wir haben nichts für Daddy zum Abendessen.« Und kein Geld, um es zu kaufen, aber sie hoffte, dass sie im Kolonialwarenladen noch ein letztes Mal anschreiben lassen könnte.
    Lucy kletterte von ihrem Stuhl und lief los, um ihre Schuhe zu holen. Beattie warf einen letzten Blick auf den Brief. Nein, sie durfte nicht mehr daran denken, bis Henry nach Hause kam. Und beten, dass er diesmal zeitig zurückkehrte.
     
    Beattie ging den Hügel hinunter in den Ort. Lucy lief vor ihr her, hob Steinchen auf oder streichelte streunende Katzen. Von hier oben aus konnte Beattie die Masten der Schiffe im Hafen und den Uhrturm des Postamts sehen. Beim Anblick der Schiffe bekam sie immer Angst. Sie und Henry hatten zwei Monate auf einem stinkenden Frachter verbracht. An die ersten zehn Tage konnte sie sich kaum erinnern, weil sie furchtbar seekrank gewesen war. Die Zeit danach war ein klaustrophobischer Alptraum in einer schäbigen Kabine, in der sie nur darauf gewartet hatte, dass die Welt unter ihr endlich aufhörte zu schaukeln, damit sie Ruhe fand. Doch auch das Land brachte keine Freude. Denn es war nicht die Heimat, sondern ein fremdes Land mit weitem Himmel, in dem manche Leute noch mit Pferdekarren fuhren. Das Heimweh war kaum zu ertragen, und an manchen Tagen fragte sie sich, ob vielleicht nur die Furcht vor der langen Seereise sie von der Heimkehr abhielt. Sie hatte sich geschworen, nie wieder den Fuß auf ein Schiff zu setzen.
    Henry hatte rasch Arbeit gefunden, und ein fester Tagesablauf bildete sich heraus. Von Billy Wilder mieteten sie ein kleines Backsteinhaus in einer von Weißdornhecken gesäumten Straße. Lucy wurde an einem Wochenende in den frühen Morgenstunden geboren, sie kam rasch und unter starken Schmerzen. Die Hebamme hatte es nicht mehr geschafft, und so musste Henry das zappelnde Baby aus ihrem Körper ziehen und in eine weiche Decke hüllen, bis Hilfe kam. Mit verschleiertem Blick hatte er Beattie gesagt, dass sie ein kleines Mädchen hätten, und dann hatten sie in heiliger Ehrfurcht eng beieinandergesessen und das Kind – die kleine Lucy mit den wilden Augen und dem roten Haar – gehalten, bis es dämmerte. Ihr Herz war von Glück erfüllt. Doch dieses Glück war nicht von Dauer gewesen.
    Der Kolonialwarenladen gehörte zwei älteren Frauen, Jean und Lesley, die Beattie nur schwer auseinanderhalten konnte. Sie waren keine reizenden alten Damen, sondern eher von der strengen, selbstgerechten Sorte. Sie standen einander sehr nahe, waren aber keine Schwestern, und Beattie vermutete, sie könnten mehr als nur Freundinnen sein. Als sie dies Henry gegenüber erwähnte, hatte er sie wegen ihrer skandalösen Gedanken beschimpft. Das machte sie traurig. Durfte sie ihm nicht einfach erzählen, was ihr in den Sinn kam? Wie konnten sie einander nahestehen, wenn er so unbarmherzig über sie urteilte?
    Andererseits – hatten sie einander je wirklich nahegestanden? Von den leidenschaftlichen Begegnungen im Club einmal abgesehen, hatten sie auf dem Schiff nach Hobart zum ersten Mal wirklich Zeit miteinander verbracht. Und festgestellt, dass sie sich nicht viel zu sagen hatten.
    Das Geschäft von Jean und Lesley florierte, doch sie jammerten immer, sie hätten kein Geld. Aus diesem Grund schalteten sie tagsüber das Licht aus, so dass die fensterlose hintere Ecke immer im Halbdunkel lag. Dort hatten sie die Spielsachen untergebracht, hoch oben auf Eichenholzregalen, verlockend und außerhalb kindlicher Reichweite. Das war Lucys Lieblingsplatz. Sehnsüchtig schaute sie zu Madame Alexanders Puppen hinauf. Das dicke Baby im roten Schlafanzug mochte

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