Der Wind der Erinnerung
tanzen.
Mitternacht, und noch immer saß ich da wie eine Statue. Schließlich erhob ich mich. Der Halbmond draußen spendete genügend Licht, um meinen Koffer zu finden. Ich hatte noch nicht ausgepackt. In einer satinüberzogenen Schachtel fand ich meine Schuhe. Neue russische Spitzenschuhe, genügend eingetragen, um bequem und flexibel zu sein, aber noch nicht abgenutzt. Die perfekten Tanzschuhe. Daneben lag das Diadem, das ich letztes Jahr in
Schwanensee
getragen hatte. Es war von einem tschechischen Schmuckdesigner eigens für mich entworfen worden, und obwohl die Edelsteine nicht echt waren, war das Stück von erlesener Schönheit. Ich setzte es auf und ließ mich auf den Boden nieder, zog den Rock bis zu den Hüften hoch, um die Schuhe zu schnüren. Die Bewegungen waren beruhigend vertraut, dabei hatte ich die Schuhe seit dem Unfall nicht mehr getragen. Dann stand ich mühsam auf. Ich hatte früher schon trotz Schmerzen getanzt.
Ich streckte vorsichtig jeden Fuß, dann … nach oben.
Einen mikroskopischen Moment lang – vielleicht das Milliardstel einer Sekunde – fühlte es sich normal an. Meine Muskeln taten, was sie tun sollten, riefen gehorsam die Erinnerungen ab. Doch der brennende Schmerz zerstörte jede Hoffnung. Ich schrie auf und fiel zu Boden. Schluchzte los. Vor Schmerz. Vor Enttäuschung. Weil ich das, was mir am meisten bedeutete, verloren hatte. Mein Verstand hatte es schon immer gewusst, aber jetzt hatte es auch mein Herz begriffen. Wenn mein Knie verheilt war – falls das überhaupt möglich sein sollte –, wäre ich zu alt. Es wäre zu riskant, mich zu besetzen. Und weil eine semi-professionelle Arbeit oder kleine Rollen unter meiner Würde waren – das immerhin gestand ich mir ein –, war meine Karriere definitiv vorbei.
Ein sanftes Klopfen.
»Geh weg.«
Aber es war Dad. Er kam herein. »Alles in Ordnung mit dir? Bist du gefallen, Em?« Er schaltete das Licht ein, das mir furchtbar grell erschien. Dann warf er einen Blick auf mich, sah das Diadem auf meinem Kopf und die Spitzenschuhe an meinen Füßen. Er eilte auf mich zu und hob mich auf. Ich weinte hemmungslos an seiner Brust. Er setzte mich vorsichtig aufs Bett. Für einen großen Mann – einen richtigen Kerl – war er immer unendlich sanft gewesen.
»Hast du dir weh getan? Soll ich einen Arzt rufen?«
»Ich bin nicht gestürzt«, erwiderte ich unter Schluckauf. »Ich weine, weil ich … weil mir klargeworden ist …« Ich konnte nicht weitersprechen.
Er schob mir das Haar aus dem heißen Gesicht. »Es tut mir so leid, mein Liebling. Ich würde alles tun, damit es besser wird. Aber das kann ich nicht.«
Natürlich konnte er es nicht. Niemand konnte das. Ich nahm das Diadem behutsam ab und gab es ihm. »Wirf es weg. Ich will es nie wiedersehen.«
Am folgenden Montag saß ich im Büro von Mr. Hibberd, der seit ewigen Zeiten der Anwalt unserer Familie war. Nie hatte ihn jemand anders als Mr. Hibberd genannt, obwohl er sicher auch einen Vornamen besaß. Er hatte etwas Altmodisches an sich mit seinen sorgfältig gebügelten Hemden und den Krawatten, die einen Tick zu breit waren. Es wäre unpassend gewesen, ihn mit Vornamen anzusprechen.
Natürlich war meine Mutter dabei. Zu ihrer Freude hatte ich darauf bestanden, dass Onkel Mike nicht mitkam. Mum wirkte unruhig und nervös. Ich selbst war gelassen, da ich, im Gegensatz zu Mum, nicht mit Geld rechnete. Grandma hatte mich gut genug gekannt, um mir kein Geld zu hinterlassen. Vielleicht wäre es ein Schmuckstück oder ein Buch, das ihr viel bedeutet hatte. Ich rechnete mit einem Andenken, das mir vielleicht etwas vermitteln sollte: vermutlich eine Lektion, auf die ich gerade überhaupt keine Lust hatte.
Mr. Hibberd schlug feierlich die Mappe auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er wusste bereits, was sich in der Mappe befand, und spielte seine Rolle wie der Moderator einer Quizsendung. »Der Gewinner ist …«
Mum knetete ihre eleganten Hände.
»Emma, Ihre Großmutter hat mir sehr genaue Anweisungen hinterlassen. Sie hat Ihnen etwas von großem sentimentalem Wert vererbt, aber es ist mit einigen Bedingungen verknüpft. Eine dieser Bedingungen besteht darin, dass Sie nach Australien zurückkehren müssen.« Er lächelte. »Willkommen zu Hause.«
Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er wusste nichts von meiner Verletzung, meinem Verlust. Doch mein Elend stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn sein Lächeln verblasste.
»Jedenfalls«, fuhr
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