Der Wind der Erinnerung
rissig, weil sie den ganzen Morgen lang die Wäsche über dem kupfernen Kessel geschrubbt und ausgewrungen hatte. Dann ging sie zitternd zum Briefkasten.
Es war ein schöner Morgen im März, frisch und kühl, doch der Himmel versprach Sonne. Doris Penny von nebenan klopfte einen Teppich vor der Haustür aus, so dass bei jedem Schlag Staubwolken aufstoben und in der Sonne tanzten. Beattie nahm einen einzelnen Umschlag aus dem Briefkasten und drehte ihn um. Kein Gläubiger, doch ihre Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Dieser Name war viel schlimmer.
»Hallo!«, rief Doris hoffnungsvoll.
Beattie steckte den Brief in die Schürzentasche und kehrte mit gesenktem Kopf ins Haus zurück. Henry hatte ihr unmissverständlich erklärt, dass sie sich mit niemandem anfreunden und nicht zu lange mit den Nachbarn sprechen solle, damit keiner ihr Geheimnis herausfand. Doris hatte sich sehr bemüht, eine Freundschaft aufzubauen, doch Beattie begegnete ihr immer nur mit flüchtigen Entschuldigungen und einer Handbewegung, die ebenso gut Begrüßung wie Abwehr sein konnte. Auch durfte Beattie keinen Kontakt nach Hause unterhalten, hatte Billy aber heimlich zwei Briefe für Cora gegeben. Sie hatte nicht geantwortet. Beattie vermisste ihr Zuhause, ihre Freunde und Eltern. Sie sehnte sich danach, jemandem ihr Herz auszuschütten, doch auch das hatte Henry ihr verboten.
Sie schloss die Küchentür und setzte sich an den Tisch, bevor sie den Brief herauszog. Der Name der Absenderin lautete
Molly MacConnell.
Henrys Frau. Seine
richtige
Frau, während Beattie seit drei Jahren nur so tat, als wären sie verheiratet. Es juckte ihr in den Fingern, ihn zu öffnen, doch sie wagte es nicht. Henry wurde immer unberechenbarer, je größer ihre finanziellen Schwierigkeiten wurden. Und je größer ihre finanziellen Schwierigkeiten wurden, desto mehr trank er, um sie zu vergessen, und desto mehr spielte er, um sich aus diesem Elend zu befreien.
Vorsichtig stellte Beattie den Brief auf den Kaminsims. Sie würde warten müssen, bis Henry heimkam, ihn las und ihr sagte, was er zu bedeuten hatte. Denn nun hatte man sie entdeckt: Wenn sich Molly die Mühe gemacht hatte, nach ihm zu suchen, wollte sie ihn vielleicht zurück. Beattie verspürte eine leise Erregung; die Vorstellung, dass sich jemand anders mit Henrys Problemen herumschlagen musste, wäre eine Erleichterung. Andererseits liebte sie ihn noch immer. Und sie waren durch ein kompliziertes Netz miteinander verbunden.
Dann öffnete sich eine Tür. Ein schläfriges Kind spähte hervor.
»Mama?«
Beattie stand auf, nahm Lucy in die Arme und küsste ihre warme Wange. »Gut geschlafen, mein Schatz?«
Lucy nickte und rieb sich mit den weichen Fäusten die Augen. »Ich will Mittag essen.«
Beattie setzte ihre Tochter an den Küchentisch und bereitete ihr ein dünnes Sandwich zu. Sie schnitt es in vier Stücke und stellte es Lucy hin, die jedoch die Nase rümpfte. »Das mag ich nicht.«
»Du hast es ja noch gar nicht probiert. Das ist Käse mit Relish.«
Lucy schüttelte den Kopf, doch nun zeigten sich Grübchen in ihren Wangen.
»Das ist Daddys Lieblingsessen«, sagte Beattie wie jeden Tag.
Lucy rieb sich theatralisch den Bauch und machte ein schlürfendes Geräusch, bevor sie in das Sandwich biss. Zu behaupten, das Mädchen hänge sehr an seinem Vater, war eine grobe Untertreibung. Lucy und Henry waren aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie hatte sein rotes Haar und die grauen Augen. Nur wenn ihre Tochter lächelte, erkannte Beattie etwas von sich selbst in ihr. Vom Augenblick ihrer Geburt an hatte Henry sie vergöttert. Sie war ein unleidliches Kind gewesen, das sich von Beattie einfach nicht beruhigen ließ. Doch wenn Henry abends von der Arbeit kam, musste er sie nur auf den Arm nehmen und sanft auf sie einreden, schon hörte das Weinen auf. Sie kuschelte sich an seine Schulter und schlief ein. Beattie war vom Muttersein zu überwältigt und erschöpft, um Eifersucht zu verspüren.
Nun, da Lucy drei war, hatte sich die Liebe zwischen Vater und Tochter so sehr gefestigt, dass Beattie sich manchmal sehr weit weg vorkam, als würden die beiden ihre Stimme kaum noch hören und ihr Gesicht nur noch verschwommen wahrnehmen. Natürlich war sie es, die den ganzen Tag mit Lucy verbrachte, ihr Puppen aus Wäscheklammern bastelte und sie in den Schlaf sang. Doch die körperliche Nähe war nichts im Vergleich zu der emotionalen Bindung, die zwischen Henry und ihrer Tochter bestand. Selbst an
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