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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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sie am liebsten, und Beattie war sich sicher, dass nur die Furcht vor den scharfen Stimmen der Ladenbesitzerinnen ihre Tochter davon abhielt, hinaufzuklettern. Beattie ließ sie vor dem Regal stehen und ging mit ihrem Korb durch den Laden, wobei sie nur das Nötigste auswählte. Dennoch war sie entsetzt, wie schnell er sich füllte.
    Dann trat sie zögernd an die Theke, auf der Gläser mit Süßigkeiten und Drehständer mit Postkarten aufgereiht standen.
    Jean – oder war es Lesley … nein, Jean war die mit dem stahlgrauen Haar – lächelte gezwungen. »Guten Morgen, Mrs. MacConnell.«
    »Guten Morgen. Ich … könnte mein Mann wohl später vorbeikommen und bezahlen?«
    Jeans Lächeln blieb, doch ihre Augen wurden kalt. »Ich glaube, wir warten immer noch darauf, dass Ihr Mann die Lebensmittel vom letzten Donnerstag bezahlt.«
    »Ich weiß. Er wird diese Woche alles begleichen.«
    Freitag war Zahltag. Allerdings blieb nie viel übrig. Acht Monate nach Lucys Geburt hatte Billy Wilder eine eigene Firma gegründet und Henry eingestellt. Nach wenigen Wochen sagte er ihm, er könne ihn nur behalten – viele Männer waren arbeitslos –, wenn er sich mit einem geringeren Gehalt zufriedengäbe. Und von diesem Gehalt zog Billy jede Woche die Miete und die Spielschulden ab, bevor auch nur ein Penny in Henrys Tasche landete. Was übrig blieb, war oft weniger als die gefürchtete »susso« – die staatliche Hilfe. Mit einer Lebensmittelkarte wären sie bessergestellt. »Wir müssen etwas essen«, sagte sie leise.
    Jean seufzte. »Manchen Leuten geht es so schlecht, dass sie Suppe aus Gras kochen, Mrs. MacConnell. Aber da Ihr Ehemann Arbeit hat, gebe ich Ihnen noch eine Chance.« Sie holte ein zerfleddertes Notizbuch aus einer Schublade, klatschte es auf die Theke und schlug es auf. »Ich räume Ihnen Kredit bis zum Ende des Monats ein. Sind die Schulden am 31 . März nicht bezahlt, können Sie hier nicht mehr einkaufen. Verstanden?«
    Beattie nickte nur. Als Jean die Preise für ihre Einkäufe in die Registrierkasse tippte und die Quittung in das Notizbuch heftete, musste sie ihre qualvolle Scham verbergen. Heute war sie etwas leichter zu ertragen, weil schlimmere Sorgen sie ablenkten. Der Brief, der auf Henry wartete und dessen Bedeutung sie nicht kannte.
     
    Beattie hoffte, Henry werde zeitig heimkommen und sie von ihrer Ungewissheit erlösen. Sie räumte das Haus auf und bereitete das Abendessen vor. Dabei spielte sie mit dem Gedanken, den Brief über heißem Wasserdampf zu öffnen, ließ es aber sein. Es lohnte keinen Wutanfall. Als die Schatten länger wurden, ging sie mit Lucy in den Garten, wo das Mädchen mit ausgestreckten Armen umherlief und endlos Ringelreihen spielen wollte. Sie beerdigte ihre Familie aus Wäscheklammerpüppchen bei lebendigem Leib und grub sie wieder aus. Henry war immer noch nicht zu Hause, und als die Sonne unterging und Lucy nach Essen jammerte, wurde ihr klar, dass er länger bleiben würde, vermutlich um mit Billy zu trinken.
    Sie brachte das Mädchen ins Haus und machte ihm Abendessen – Brot, Bratenfett und einen Rest Erbsensuppe –, hatte selbst aber keinen Appetit. Danach hatte sie viel zu tun: Lucy baden, sauber machen, Geschichten erzählen. Das Mädchen weinte ein wenig, weil Daddy nicht zu Hause war, doch Beattie versicherte ihr, je schneller sie einschlafe, desto früher sei es Morgen, und sie könne ihn wiedersehen.
    Beattie setzte sich mit ihrem Nähzeug hin. Sie hatte ihre und Lucys Sachen alle selbst genäht und hielt oft Ausschau nach abgelegten Kleidern, die sie auftrennen und wiederverwerten konnte. Ihre kindlichen Träume von einem Leben als Modeschöpferin kamen ihr jetzt lächerlich vor, aber sie zeichnete immer noch gern Entwürfe, und viele der einheimischen Frauen hatten ihre schönen Sachen gelobt. Beattie hielt dann den Kopf gesenkt und nickte höflich, ließ sich aber nicht auf ein Gespräch ein. Allerdings hatte sie Henry vorgeschlagen, eine kleine Firma zu gründen und selbstgenähte Kinderkleider zu verkaufen.
    Henry hatte die Idee abgetan. »Keiner hat Geld, und Kinder wachsen so schnell, dass es albern wäre, Geld für neue Kleider auszugeben. Bleib einfach für dich.«
    Während Beattie nähte, wurde es immer später. Sie hatte keinen Hunger, aß aber ein wenig und ließ den Rest für Henry stehen. Wieder und wieder schaute sie zu dem Brief, und als sich der Wind, der vom Meer herüberwehte, verstärkte und es kalt genug wurde, um das

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