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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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meinen Daddy.«
    Margaret hob sie auf, setzte sich mit ihr aufs Bett und legte einen Arm um ihre Taille. Sie hatte ein hübsches Gesicht, etwa so, wie sich Lucy die Jungfrau Maria vorstellte.
    »Eigentlich möchte ich dir das nicht sagen«, sagte sie, »aber du musst es erfahren. Du bist unschuldig, noch heilig in Gottes Augen. Aber deine Eltern haben schlimme Dinge getan. Es ist Verschwendung, für sie zu beten. Du musst dich um deine eigene Seele sorgen, nicht um ihre.«
    »Was für schlimme Dinge haben sie gemacht?«, keuchte Lucy. Dunkle Schatten sammelten sich in ihrem Kopf. Sie dachte an Jesus, der am Kreuz für ihre Sünden gestorben war. Und sie waren so undankbar. Sie hatte Mummy kein einziges Mal beten sehen!
    »Du wirst es verstehen, wenn du erwachsen bist. Aber du darfst deiner Mutter jetzt nichts sagen. Das würde Gott nicht wollen.«
    Lucy nickte. »Wenn ich also nicht beten kann, dass Daddy zurückkommt …«
    »Du solltest lieber um die Kraft beten, ihn nicht mehr zu lieben, dann tut es nämlich nicht mehr weh.«
    Daddy nicht mehr lieben?
Lucy wusste, dass Gott das nicht von ihr verlangen würde. Sie beschloss, trotzdem weiterzubeten. Sie würde nur schlau sein und nicht mehr dabei weinen.
     
    In den nächsten Wochen entwickelte Beattie einen festen Tagesablauf. Von fünf Uhr morgens bis zehn nähte sie für Margaret, gab Lucy einen Abschiedskuss und stieg zu Mikhail in den Wagen. Sonntags ging sie mit ihr nach der Sonntagsschule in den Kolonialwarenladen, um ein Eis zu essen. Danach spazierten sie zum Bach hinunter, der nur noch ein harmloses Rinnsal war, und suchten nach Schildkröten. Ihrem neuen Arbeitgeber Raphael Blanchard war sie noch nicht begegnet, kannte aber seine Kleidung, edle Hemden und seidene Morgenmäntel. Es war seltsam, die Unterwäsche eines Mannes in der Hand zu halten, dem sie noch nie begegnet war. Sie gehorchte und wagte sich nie weiter als in Küche und Waschküche. Sie genoss die Vorzüge einer sicheren Stelle, eines Hauses und dass sie genügend Geld für Essen und Schuhe hatte. Es war nicht das Leben, das sie sich erträumt hatte, aber trotzdem ein gutes Leben. Mit jeder Woche, in der sie nichts von Henry hörte, wuchs die Gewissheit, dass sie ihm endgültig entkommen war.
     
    Sobald sie genügend Geld für eine Briefmarke und einen Umschlag gespart hatte, schrieb Beattie an ihre Eltern in Glasgow. Sie wusste nicht, ob sie noch Kontakt zu ihr wollten. An jenem schrecklichen letzten Tag hatte ihre Mutter sich von ihr losgesagt, doch sie hoffte, dass genügend Zeit vergangen war und die beiden ihr vergeben hatten. Nachdem sie den Brief abgeschickt hatte, fragte sie sich, ob sie irgendwann nach Hause zurückkehren sollte, doch waren Schottland und England eigentlich nicht mehr ihr Zuhause. Lucy war hier geboren, der Sonnenschein und der weite Himmel waren ihr ans Herz gewachsen. Es wäre nicht richtig, sie in eine elende Wohnung in einer stinkenden Stadt zu stecken.
    Die Antwort traf überraschend schnell ein, doch der Absender waren nicht ihre Eltern. Der Brief kam von Mrs. Peters aus der Wohnung nebenan.
    Beatties Haut kribbelte, als sie mit zitternden Fingern den Umschlag öffnete. Lucy lief im Vorgarten umher und spielte Schmetterling, während Margaret die Veranda kehrte und dabei ein Kirchenlied summte. Mikhail konnte jeden Augenblick mit dem Wagen kommen, doch Beattie wünschte sich, die Zeit möge stillstehen, alle Bewegungen und Geräusche verstummen, damit sie sich ganz auf den Inhalt des Briefes konzentrieren konnte. So nahm sie nur Bruchstücke auf.
     
    … Die neuen Leute in der Wohnung deiner Eltern haben mir den Brief gegeben … bedauere sehr, dass ich keine guten Neuigkeiten habe … deine Mutter hat Fieber bekommen, es ging sehr schnell … musste zum Glück nicht leiden … dein Vater ist tagelang wie ein Geist umhergelaufen … Sturz auf der Treppe … Rettung kam zu spät … haben bestimmt oft und liebevoll an dich gedacht …
     
    Ihre Tränen ließen die Worte auf dem Blatt verschwimmen. Beattie schluchzte einmal auf, verbarg dann aber rasch den Brief unter ihrem Kopfkissen. Sie wollte Lucy nicht beunruhigen. Draußen hörte sie den Wagen vorfahren, das energische Hupen. Das Leben ging weiter, es musste weitergehen. Tiefes Bedauern erfüllte sie, und sie erinnerte sich an Charlie Harris, der vor langer Zeit beide Eltern verloren hatte.
Bin ganz allein auf der Welt und passe auf mich auf.
Sie wischte die Tränen mit der Hand weg und eilte

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