Der Wind der Erinnerung
nach draußen. Heute Abend nach der Arbeit, wenn sie mit Lucy im Bett lag, konnte sie immer noch weinen.
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Zwölf
B eattie arbeitete schon sechs Monate auf Wildflower Hill, als sie Raphael Blanchard kennenlernte. Bei ihrer Ankunft hatte sie einen kurzen Blick auf ihn erhascht, als sie zum obersten Stock hinaufschaute. Sie hatte ihn im Profil am Fenster gesehen, er dagegen hatte sie nicht bemerkt. Ein kurzer Eindruck von dunklem Haar, hellen Augen und Jugend, mehr nicht. Allerdings kam Alice jeden Tag nach dem Mittagessen in die Küche, um sich am Herd zu wärmen, und erzählte dabei das eine oder andere über Raphael.Er war der fünfte Sohn eines unbedeutenden englischen Earls und damit beauftragt worden, dessen geschäftliche Interessen im Empire zu vertreten, doch war Raphael weder an Geschäften noch an Schafen sonderlich interessiert. Er hatte einen Verwalter eingestellt und widmete sich lieber dem gesellschaftlichen Leben. Mikhail war sein Mädchen für alles und fuhr drei- oder viermal täglich durch die Gegend, um Leute abzuholen oder nach Hause zu bringen.
Es war ein schöner Wintermorgen. Die Sonne war spät aufgegangen, schien nun aber golden auf die Bäume und Felder. Als Beattie zur Arbeit kam, saß Alice am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt.
»Was ist los?« Sie hängte ihren Mantel auf und band die Schürze um.
Alice blickte auf. Ihr Gesicht war gerötet, und sie hielt ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. »Ich bin krank«, krächzte sie und erlitt wie zum Beweis einen Hustenanfall, der gar nicht mehr aufhören wollte.
Beattie stellte ihr ein Glas Wasser hin.
Alice brachte den Husten unter Kontrolle und trank einen Schluck, bevor sie sich lautstark schneuzte. »Beattie, du musst heute das Mittagessen servieren. Ich kann nicht aufs Essen husten.«
»Natürlich. Du musst mir nur sagen, was ich machen soll.«
Alice schaute sie mit verschwommenem Blick an. »Es gibt eine einzige Regel. Keinen Augenkontakt mit Mr. Blanchard.«
»Mag er das nicht?«
»Nicht um seinetwillen, Beattie, um deinetwillen.« Alice schüttelte den Kopf. »Immer nach unten schauen. Er hat nur einen Gast: seinen Anwalt Mr. Sampson. Warte ab, bis sie ins Gespräch vertieft sind, dann machst du dich unsichtbar. Du stellst ihnen das Essen hin und verlässt das Zimmer. Zwei Gänge: Suppe und Braten. Der Braten ist schon im Ofen.«
An diesem Morgen arbeiteten sie zusammen in der Küche. Alice’ Warnung ging Beattie nicht aus dem Kopf.
Immer nach unten schauen.
Er musste ein Tyrann sein, ein furchtbarer Mensch. Wie konnte Alice das nur ertragen? Sie wurde zunehmend nervöser. Sie hatte gehofft, nie wieder einem herrschsüchtigen Mann wie Henry zu begegnen.
Schließlich war es Zeit, die Suppe aufzutragen. Alice beschrieb ihr den Weg zum Esszimmer, und nachdem sich das Zittern ihrer Hände gelegt hatte, bekam Beattie etwas mehr vom Wohnhaus zu sehen.
Gegenüber der Küche befand sich ein Lagerraum, dessen Tür geschlossen war. Eine Treppe führte nach oben zu den Schlafzimmern. Die dunkle Holztäfelung schluckte das Licht. Hinter der Treppe befanden sich ein Wohnzimmer und ein großes Esszimmer, aus dem Männerstimmen zu hören waren. Der perfekte Zeitpunkt. Sie balancierte das Tablett auf der Hüfte, öffnete die Tür und glitt leise hinein.
Augen nach unten. Sie roch Eau de Cologne, das einen weniger angenehmen, moschusartigen Geruch überdeckte. Auch hier gab es die Kathedralenfenster, und hinter einer zweiflügeligen Falttür lag eine feuchte, mit Flechten bewachsene Terrasse. Sie sah nicht zu den Männern, die weitersprachen, als wäre sie gar nicht da. Sie stellte jedem eine Suppentasse hin – den Tisch hatte Alice bereits am Morgen gedeckt – und ging wieder zur Tür.
Bevor sie hinausschlüpfen konnte, wurde das Gespräch abrupt unterbrochen, und eine herrische Stimme sagte: »Du bist nicht Alice.«
Beattie drehte sich um, das Tablett unter dem Arm. Sollte sie immer noch nach unten sehen? Es kam ihr unhöflich vor, sie wollte nicht dafür gescholten werden. Also hob sie den Blick und lächelte höflich. »Ich bin Beattie, Sir.«
Als Frau wäre Raphael Blanchard sehr hübsch gewesen. Er hatte dichtes, dunkles Haar, das ihm lockig in die Stirn fiel, und runde hellblaue Augen mit langen Wimpern. Sein blasses Gesicht hatte einen Bartschatten, die Hände waren lang und schlaff. Seine Arme und Beine wirkten nahezu ausgemergelt, doch um die Hüften war sein Körper dicklich. Beattie musste
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