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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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unwillkürlich an die Puppe denken, die sie einmal mit Lucy gebastelt hatte. Eine ausgestopfte Socke hatte als Körper, und Stöckchen hatten als Arme gedient. Sie warf einen flüchtigen Blick auf seinen Gast, einen älteren Herrn mit graumeliertem Bart, der sie freundlich anlächelte.
    Raphael hingegen lächelte nicht. »Wer bist du, Beattie, und weshalb bringst du mir meine Suppe?«
    »Ich bin Ihr Hausmädchen, und Alice ist krank.«
    »Bist du neu hier?«
    »Nein, Sir. Ich arbeite seit fast sechs Monaten im Haus.«
    »Sechs Monate! Und ich bin dir nie begegnet!« Er riss erstaunt die Augen auf. »Alice hat dich versteckt, was?«
    »Nein, Sir. Ich arbeite in der Küche und in der Waschküche. Es gab bisher keinen Grund, nach oben zu kommen.« Allmählich erkannte Beattie, dass er gar nicht wütend auf sie war. Daher entspannte sie sich ein wenig. »Ich werde jetzt gehen. Der Hauptgang ist Roastbeef.«
    »Ich freue mich schon, dich wiederzusehen.« Sein hungriger Blick wanderte über ihr Gesicht und ihren Körper, und Beattie verspürte einen leisen Ekel.
    Zurück in der Küche erzählte sie Alice, was geschehen war. »Er hat mich angesehen, aber er war sehr nett.«
    »Natürlich war er das«, murmelte Alice. »Er sollte nur nicht
zu
nett werden, wenn du verstehst, was ich meine. So haben wir nämlich unser letztes Mädchen verloren.«
    Beattie setzte den Kessel auf den Herd. Zwischen den Gängen blieb immer Zeit für eine Tasse Tee. »Erzähl es mir lieber.«
    »Sie war eine junge Närrin. Als er ihr seine Liebe gestand, hat sie ihm geglaubt, obwohl ich ihr sagte, ich hätte das alles schon öfter erlebt. Er würde doch niemals ein Hausmädchen heiraten! Er wollte nur das eine, und nachdem er es bekommen hatte, wurde sie gefeuert.«
    Entsetzt sah Beattie sie an. Dann fiel ihr Margarets Warnung ein, dass Wildflower Hill ein Ort der Sünde sei. »Das ist nicht dein Ernst!«
    »Und ob. Keine Sorge, morgen bist du wieder hier unten und in der Waschküche, dann wird er dich schnell vergessen. Er hat genügend hübsche junge Dinger, die ihm Gesellschaft leisten. Mikhail bringt sie immer abends her. Lass uns Tee trinken, den kann ich jetzt gebrauchen.«
    Beattie bereitete den Tee zu, schön heiß und stark. Dann setzte sie sich zu Alice, blickte aus dem Fenster auf die gewellten Felder und den blassen Himmel und dachte an Henry, an die Mädchen in Morecombe House und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Henry zu verlassen hatte viel Kraft gekostet, und sie war stolz auf sich gewesen, doch hatte das ihre Verletzlichkeit, das tief verwurzelte Gefühl, ein Opfer zu sein, nicht ganz tilgen können. Sie dachte an den hungrigen Blick, mit dem Raphael sie taxiert hatte; vielleicht lag es ja an ihr, dass er sich so etwas herausnahm. Wenn sie das nächste Mal hineinging, würde sie nicht nett lächeln, sondern das Kinn heben und ihm zeigen, dass sie nicht irgendein dummes Spielzeug war.
    Als sie ins Esszimmer zurückkehrte, schaute sie nicht nach unten, sondern ging aufrecht und mit geraden Schultern.
    Raphael, der auf ihre Rückkehr gewartet hatte, unterbrach das Gespräch mitten im Satz. »Da bist du ja wieder. Leo, kannst du dir vorstellen, dass Alice sie die ganze Zeit unten versteckt hat? Eine Schönheit, nicht wahr?«
    Es war lange her, dass jemand Beattie schön genannt hatte. Sie hatte sich kaum verändert, war immer noch klein und dünn, mit ungezähmtem dunklem Haar, doch strahlte sie nun eine müde Wachsamkeit aus, die Männer gewöhnlich abschreckte.
    Der andere Herr besaß genügend Anstand, um peinlich berührt zu wirken. »Jede Frau ist schön, wenn sie Anmut und Mitgefühl besitzt«, murmelte er.
    »Beattie, das ist Leo Sampson, mein Anwalt.«
    Beattie nickte dem Anwalt zu und lächelte dankbar.
    »Warum setzt du dich nicht zu uns, Mädchen? Übers Geschäft können wir auch noch nach dem Essen reden. Erzähl uns was von dir. Ich höre da doch einen schottischen Akzent.«
    Beattie räumte die Suppentassen ab und erwiderte, ohne ihm in die Augen zu sehen: »Vielen Dank für das freundliche Angebot, aber Alice hat mich gebeten, gleich in die Küche zurückzukommen.«
    »Alice! Sie ist meine Angestellte, genau wie du.« Auf einmal klang seine Stimme kalt und scharf. »Vergiss nicht, wer dich bezahlt.«
    »Das tue ich nicht, Sir, und ich bin Ihnen sehr dankbar.« Sie bemühte sich, mit starker Stimme zu sprechen; sie stellte sich vor, was Margaret unter solchen Umständen getan hätte. »Doch da Gott so gut

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