Der Wind über den Klippen
So etwas passiert doch nur auf der Opernbüh-ne«, versuchte er zu spaßen, doch ich erwiderte sein Lächeln nicht. »Ich habe Mikke sofort angesehen, dass etwas Schlimmes passiert ist, aber er sprach auch nur von einem Unfall.«
Ich breitete das Handtuch aus, er vermied es hinzuschauen.
»Weißt du, woher dieses Blut stammt?«
Holma gab keine Antwort, er schaute aus dem Fenster und fuhr sich wieder durch die Haare.
»Du hast dich am Samstagabend hier in der Sauna mit Juha geprügelt.«
»Wer behauptet das?« Seine Stimme zitterte.
»Das tut nichts zur Sache. Nun sag schon, was los war.«
Tapio Holma schwieg eine ganze Weile. Ich blickte mich um, suchte nach Spuren eines Kampfes, immerhin hatte Jiri von herumfliegenden Holzscheiten gesprochen. Mit einem Holzscheit konnte man aber niemandem den Schädel einschlagen, mit der Wasserkelle auch nicht. Auf der untersten Pritsche entdeckte ich einen dunklen Fleck, der ebenfalls wie Blut aussah.
»Es war einfach idiotisch«, stieß Tapio schließlich hervor.
»Zwei erwachsene Männer prügeln sich wie Rotznasen.«
»Wer hat angefangen?«
»Ich«, gab er verlegen zu. »Das heißt, ich habe als Erster zugeschlagen, aber Juha hatte mich provoziert.«
Was Juha gesagt hatte, wollte er mir nicht verraten, das sei zu persönlich. Natürlich war es um Riikka gegangen. Holma hatte mit der Faust ausgeholt, woraufhin Juha ein Holzscheit gepackt hatte. Holmas zweiter Fausthieb hatte Juhas Nase getroffen. Als Jiri die Männer zum Essen rief, wischte sich Juha gerade mit dem Handtuch das Blut aus dem Gesicht.
»Warum hast du uns das nicht gleich erzählt?«
Seine Erklärung klang nicht gerade glaubwürdig. Er behauptete, der Zwischenfall sei ihm unbedeutend erschienen und er habe Juhas Andenken nicht in den Schmutz ziehen wollen.
»Jiri wird es natürlich Riikka und Anne erzählen«, seufzte Holma, als wir von der Sauna zum Festungsgebäude zurückgin-gen. »Wie geht es übrigens deiner süßen kleinen Tochter? Wer versorgt sie, während du arbeitest? Sie ist doch noch zu klein für die Kindertagesstätte.«
»Ihr Vater hat Erziehungsurlaub genommen«, sagte ich rasch und machte mich auf eine verwunderte Bemerkung gefasst, doch Holma meinte:
»Das könnte ich auch machen, vor allem, wenn meine Stimme nicht mehr in Ordnung kommt. Ich würde zu Hause bleiben und das Baby versorgen, sodass Riikka studieren kann. Ein Kind müsste nicht ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen.«
Koivu und Mikke saßen immer noch in der Küche, der eine trank Cola, der andere studierte eine Seekarte.
»Gehen wir auf den Leuchtturm«, schlug ich Mikke vor, der zum Glück nicht nach dem Grund fragte, sondern mir folgte.
Wir stiegen die Wendeltreppe zur Plattform hinauf. Der Wind hatte sich fast ganz gelegt, nur flache, behäbige Wellen rollten vom offenen Meer auf die Insel zu. Kein Schiff war am Horizont zu sehen.
»Es wird nicht mehr viele Tage wie diesen geben. Bald kommen die Herbststürme«, seufzte Mikke wehmütig.
»Du würdest am liebsten noch heute in See stechen, stimmt’s?«
»Genau.« Er blickte starr aufs Meer. Seine Augenbrauen leuchteten fast weiß, unter den hervorstehenden Backenknochen zeichneten sich dunkle Schatten ab. »Aber ich muss Juhas Beerdigung abwarten. Er war immerhin mein einziger Bruder.«
»Der Leichnam wird heute freigegeben. Allerdings ist die Beerdigung nicht das einzige Hindernis für deine Abfahrt. Die Techniker untersuchen gerade die Stelle, wo du Juhas Leiche gefunden hast. Von hier aus sieht man sie übrigens nicht.«
Ich zeigte auf das Westufer der Insel. Wir betrachteten die roten, mit Moos und Flechte besprenkelten Granitfelsen, die das Steilufer vor unseren Blicken verbargen.
»Du warst auf dem Leuchtturm, um den Sonnenaufgang zu bewundern, und hast dabei Juhas Leiche entdeckt. Das war deine Aussage. Offenbar hast du gelogen.«
Ich zuckte zusammen, als er sich abrupt zu mir umdrehte. Er machte den Mund auf, brachte aber kein Wort heraus. Ich fixierte ihn so herausfordernd, wie ich es vermochte, als könnte ich mit meinem Blick durch seine Augen in seinen Kopf vordringen und erkennen, was er verheimlichte. Es wirkte: Mikke wandte das Gesicht ab, und auf seinen Wangen breitete sich Röte aus.
»Ich wollte nicht lügen. Es war mir nur so peinlich …« Er lehnte einen Ellbogen an die Wand, drehte das Gesicht in den Schatten. »Ich hatte unruhig geschlafen, wie immer, wenn ich Wein und Bier durcheinander trinke. Der Wind hatte gedreht, deshalb bin
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