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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Leiche gesehen?«, fragte ich, als wir uns der Felskante näherten.
    »Das muss irgendwo hier gewesen sein, wo das Ufer sichtbar wird … Ich weiß es nicht mehr genau, ich war fürchterlich erschrocken.«
    Die Techniker kämmten immer noch das Ufer ab, obwohl Hakkarainen beteuert hatte, man habe bereits am Sonntag alles gefunden, was überhaupt zu finden sei. Der Taucher machte Pause, im Trockenanzug und mit seinem Sauerstoffgerät sah er aus wie ein Monster aus einer fremden Welt.
    »Du hast gesagt, du bist gestolpert und fast auf die Leiche deines Bruders gefallen. Wir wollen mal rekonstruieren, wie Juha lag, als du ihn gefunden hast. Turunen!«, rief ich dem Taucher zu. »Würdest du bitte die Leiche spielen? Hakkarainen, mach Fotos!«
    Während Turunen schwerfällig ins Wasser watete, rutschte ich vorsichtig den Felsen hinunter. Mikkes Gesicht war weiß wie die vom Meer angeschwemmten Muscheln.
    »Na los, gib ihm Anweisungen«, sagte ich zu Mikke. Er biss die Zähne zusammen, dass sich die Backenmuskeln spannten wie bei einem Trompeter, und folgte mir.
    »Etwas nach links. Die Arme ausbreiten, den linken Arm zwischen die beiden Steine. Die Beine waren anders, weiter gespreizt …«
    Obwohl ich mir vorkam wie eine Sadistin, bat ich Mikke, uns noch zu zeigen, wie er den Felsen hinuntergerutscht war und die Leiche seines Bruders aus dem Wasser gezogen hatte. Er glitt in einem halsbrecherischen Manöver den Abhang hinab, watete so weit ins Meer, dass ihm das Wasser fast in die Stiefel lief, und brachte Turunen mühelos in halbsitzende Position wie eine Puppe.
    »Ich kann ihn nicht rausziehen wie Juha«, rief er. »Er tut sich weh!«
    »Das genügt schon!«, erwiderte ich. Mikke ließ Turunens Knöchel los und hielt sich sekundenlang die Hände vors Gesicht. Ich bat den Taucher aufzustehen und drehte mich zu Hakkarainen um. Er betrachtete die elegante blau gerahmte Brille, die in einem Plastikbeutel steckte, eindeutig eine Män-nerbrille. Vergeblich versuchte ich mich zu erinnern, was für ein Modell Juha Merivaara getragen hatte. Mikke musste das Fundstück identifizieren.
    »Ja, das ist Juhas Brille«, sagte er nach einem kurzen Blick und ging davon. Mein Handy klingelte wieder, Koivu erkundigte sich, wie es weiterginge.
    »Haben wir was zu essen mit? Ich hab einen fürchterlichen Hunger«, jammerte er.
    »Wir haben Brote dabei, aber komm erst mal hierher, ich möchte ein bisschen theoretisieren. Der Taucher ist noch lange nicht fertig.«
    Ich lief Mikke nach und sagte, er könne jetzt zu Tapio ins Gästehaus gehen. Da er nicht reagierte, kommandierte ich ihn geradezu ins Haus. Wie mochten Mikke und Tapio zueinander stehen? Ich konnte mir von keinem der beiden vorstellen, dass er die Lebensweise anderer Menschen so rigoros kritisierte wie Juha Merivaara. Dass sie ohne Zeugen beieinander saßen, spielte keine Rolle mehr. Wenn sie unter einer Decke steckten, hatten sie sich längst absprechen können.
    »Ich hab entsetzlichen Hunger«, jammerte Koivu, als er am Ufer auftauchte. »Typisches Katersymptom. Ein großes Steak oder eine Salamipizza, das wäre jetzt das Richtige.«
    »Absolut, aber heute gibt’s nur Käsebrote. Komm, wir sehen uns noch einmal an, wo Merivaara abgestürzt ist. Offenbar hat er hier einen Schlag über den Kopf bekommen, ist gefallen und den Felsen hinuntergerutscht. Die ideale Stelle für einen Mord.
    Ohne den Westwind wäre die Leiche womöglich aufs offene Meer hinausgetrieben und nie gefunden worden.«
    »Kann man daraus schließen, dass der Täter sich mit den Windverhältnissen nicht besonders gut auskannte und deshalb glaubte, die Strömung würde den Toten auf jeden Fall mitrei-
    ßen?«
    »Vielleicht.« Allerdings war von den Inselbesuchern höchstens Tapio Holma unerfahren genug für eine solche Fehleinschätzung. Oder handelte es sich doch um einen Fremden, der auf die Insel gekommen war? Aber wer und warum?
    »Ziemlich beeindruckend, die Kanonenlöcher«, meinte Koivu und zeigte auf die Felswand. »Aus welchem Krieg mögen die stammen, aus dem Zweiten Weltkrieg vielleicht?«
    »Ich glaube, die sind älter. Du erinnerst dich sicher an das Lied vom Åland-Krieg? Damals wurde auch hier gekämpft, an der Südküste sind noch mehr Einschüsse. Die glorreiche englische Marine nahm die Festung im Sommer achtzehnhun-dertfünfundfünfzig unter Beschuss, aber die Truppen verteidigten sich mannhaft, und die Engländer mussten unver-richteter Dinge abziehen«, wiederholte ich, was ich von Anne

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