Der Wind über den Klippen
ich zur ›Leanda‹ gegangen, um die Vertäuung zu überprüfen. Irgendwie kam mir Seijas Gerede von den Geistern in den Sinn. Ich glaube zwar nicht an Gespenster, aber …« Er hob den Kopf und versuchte mir in die Augen zu schauen, brachte es jedoch nicht fertig. »Ich habe Harri letztes Jahr hier auf der Insel abgesetzt und bin dann gleich zu meiner Winterreise aufgebrochen. Unterwegs habe ich zwar kurz auf Föglö Station gemacht, um meine Mutter zu besuchen, aber niemand war auf die Idee gekommen, sie über Harris Tod zu informieren.
Ich habe erst im Januar davon erfahren, als ich wochenlang mit Kielschaden in Portugal festlag. Dort hat mich ein Brief von Seija erreicht, in dem sie mir von dem Unfall berichtete. Ich weiß nicht, ob ich beigedreht hätte und zur Beerdigung gefahren wäre, wenn ich davon gewusst hätte. Wahrscheinlich ja, Harri war einer meiner besten Freunde. Eigentlich ist es meine Schuld, dass er überhaupt auf Rödskär war, ich hatte ihn nämlich vorgeschlagen, als Leute gesucht wurden, um die hiesigen Seevögel zu registrieren.«
Ich hörte mir Mikkes Monolog an, ohne ihn zu unterbrechen.
Ich konnte nichts daran ändern, dass ich mich in seiner Nähe wohl fühlte, obwohl das perfide Schicksal einen Mord zwischen uns gestellt hatte. Zugleich fürchtete ich, man könnte mir meine Gefühle ansehen, und bemühte mich deshalb verzweifelt, Mikke zu behandeln wie jeden anderen, den ich zu vernehmen hatte.
»Eigentlich hatte ich am Samstag vorgehabt, mir die Stelle anzusehen, an der Harri abgestürzt war, aber ich wollte Anne nicht an das Unglück erinnern. Am Sonntagmorgen schien die Gelegenheit dann günstig. Ich war allein. Ich bin ans Ufer gegangen und … Zuerst dachte ich, ich hätte Halluzinationen.
Als ich dann begriffen habe, dass da tatsächlich ein Wesen aus Fleisch und Blut liegt, bin ich vor lauter Entsetzen selbst ausgerutscht. Ich konnte nichts mehr für Juha tun. Und dann musste ich auch noch der Familie sagen, dass ich … dass ich Juhas Leiche gefunden hatte. O Gott, es war furchtbar!«
Mikke lehnte sich an die Glaskuppel, die das Leuchtfeuer abschirmte, und wischte sich über die Stirn. Ich hätte etwas ganz anderes sagen wollen, fuhr aber mit der Vernehmung fort:
»Was hast du am Ufer sonst noch gefunden?«
»Was meinst du?«
»Die Wunde an der Schläfe deines Bruders ist nicht von selbst dahin gekommen. Wir suchen eine Hiebwaffe. Hast du sie gesehen?«
»Am Ufer war nichts.«
Mikkes Stimme klang tonlos, ich war ganz sicher, dass er log.
Es gab mir auch zu denken, dass gerade er Harri damals nach Rödskär gebracht hatte. War es denkbar, dass er ihn vom Felsen gestoßen hatte? Warum hätte er das tun sollen? Warum hätte irgendwer Harri umbringen sollen?
»Mochtest du deinen Bruder?«
»Er war schon in Ordnung, wenn man ihn nur ab und zu im Sommer sah.« Er kramte die Pfeife aus der Tasche und begann sie zu reinigen. »Juha hielt nicht viel von meiner Lebensweise.
Er sagte, er könne ja verstehen, dass man als junger Mann die Welt umrunden will, aber mit vierunddreißig müsse man allmählich sesshaft werden und eine Familie gründen. Der Herzinfarkt im letzten Winter muss ihm einen Schreck eingejagt haben, denn er wollte mich partout überreden, wieder Aktionär der Merivaara AG und eine Art stellvertretender Geschäftsführer zu werden.«
»Aber du hast abgelehnt?«
Am Horizont war ein Frachtschiff aufgetaucht, ich schirmte die Augen mit der Hand ab, um es besser zu sehen, konnte jedoch keine Einzelheiten erkennen. Als ich die Augen schloss, schickte die Sonne helle Flecken durch die Lider. Wahrscheinlich fragte Koivu sich schon, was wir so lange auf dem Leuchtturm trieben, doch ich mochte noch nicht hinuntergehen.
»Wenn es Herbst wird, brenne ich darauf, dem finnischen Winter zu entkommen. Seija nennt mich deshalb Zugvogel«, lachte Mikke. »Im Sommer sind die Schären allerdings der schönste Ort auf der Welt, obwohl die Blaualgenbänke in diesem Jahr ein abscheulicher Anblick waren. Ich bin regelrecht wütend geworden.«
Er hatte seine Pfeife mittlerweile gesäubert und begann sie zu stopfen. Da klingelte mein Handy: Der Taucher hatte im Meer eine Brille gefunden.
»Ich komm hin und seh sie mir an.«
Ich bat Mikke, mit mir auf dem gleichen Weg zum Fundort zu gehen wie am Sonntagmorgen. Auf seinen langen, dürren Beinen stakste er durch das schwarz gefrorene Gras, so schnell, dass mir keine Zeit blieb, Koivu Bescheid zu sagen.
»Von wo aus hast du die
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