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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Merivaara gehört hatte.
    Für einen Moment vergaß ich alles andere und malte mir aus, wie es vor hundertvierzig Jahren auf Rödskär ausgesehen hatte.
    Ich sah ein von Süden heranziehendes Kriegsschiff vor mir, einen Dreimaster, ein Marineoffizier im Dreispitz stand an Deck und rief: »Feuer!« Bei dem Gedanken schauderte es mich. Was hatte Seija Saarela von Geistern und negativen Energien gesagt
    …
    Natürlich glaubte ich nicht an so etwas, sondern an rationale Schlussfolgerungen, wissenschaftliche Untersuchungen und Menschenkenntnis. Damit wurden Verbrechen aufgeklärt. Die Wahrheit lag nicht irgendwo in diesen Klippen, und sie würde sich mir auch nicht als magische Vision offenbaren. Es galt, in harter Arbeit viele Mosaiksteinchen auszugraben, damit wir jemanden den Mord an Juha Merivaara nachweisen konnten.
    »Wie war das mit den Butterbroten?«, unterbrach Koivu meine Überlegungen.
    »Auf dem Boot ist eine Provianttasche, die kannst du holen.
    Wenn wir Glück haben, finden wir im Gästehaus Kaffee.
    Kräutertee gibt es auf jeden Fall. Bring auch den Wasserkanister mit, hier gibt es ja keinen Brunnen.«
    Tapio Holma lag auf der Küchenbank und hörte über Kopfhö-
    rer Radio, während Mikke sich wieder über die Seekarte gebeugt hatte. Ich sah in den Küchenschränken nach, wo ich Pulverkaffee aus dem Dritte-Welt-Laden und drei Sorten Kräutertee entdeckte. Ich fragte die beiden Männer, ob sie etwas trinken wollten.
    »Pfefferminztee wäre nicht schlecht«, sagte Holma erfreut.
    »Irgendwo müsste auch noch Roggenzwieback sein. Wird es noch lange dauern?«
    »Ich weiß es nicht.« Das Warten ging auch mir auf die Nerven, denn im Präsidium waren eine Million Dinge zu erledigen.
    Koivu kam schwer beladen und schnaufend herein, ich machte Anstalten, den Gasherd anzuzünden.
    »Ich kann den Küchendienst übernehmen«, bot Mikke an, »das braucht eine Hauptkommissarin nicht zu tun.«
    Ich hörte die Frotzelei in seiner Stimme und musste lächeln. Er lächelte zurück und fragte, ob ich Kaffee oder Tee wolle.
    »Annes ideologisch unanfechtbarer Kaffee schmeckt sehr gut.«
    »Den hab ich früher in der Mensa literweise getrunken«, antwortete ich und ging hinaus, um mich mit den Technikern zu beraten, bevor die Frau in mir wieder einmal die Oberhand über die Polizistin gewann. Der Taucher klagte über das trübe Wasser und den schlammigen Boden. Ohne zusätzliche Taucher und schweres Gerät lohne es sich nicht, ein größeres Gebiet abzusuchen. Das wiederum war zu teuer – wir wussten ja nicht einmal, wonach wir suchten.
    »Eine Taschenlampe wäre die logische Waffe«, sinnierte Turunen. »Sie hat die richtige Form, und es ist Glas daran, das bei einem Schlag zersplittern kann. Und da die Tat im Dunkeln geschehen ist …«
    Der Gedanke war mir auch schon gekommen. Eine Taschenlampe war zudem so klein und alltäglich, dass jeder unserer Verdächtigen sie von der Insel mitgenommen haben konnte.
    Also war unsere Suche womöglich ganz zwecklos.
    Wir beschlossen, nach dem Imbiss abzufahren. Ich spazierte an die Südspitze der Insel, bewunderte eine Weile den Leuchtturm, der granitrot vor dem tiefblauen Himmel aufragte, betrachtete das Flimmern des Lichts auf dem sanft gekräuselten Wasser. Die nächste Nacht würde windstill und entsetzlich kalt werden. Ich presste die Handfläche auf den Fels, den die Sonne nicht mehr zu wärmen vermochte. Die Kälte kroch mir den Arm hinauf. Bevor ich zum Kaffee ging, steckte ich ein von weißem Quarz durchzogenes Granitstück in die Tasche.
    Turunen und der Taucher unterhielten sich über das bevorste-hende Formel-1-Rennen, die anderen aßen schweigend. Ich merkte, dass ich viel zu oft zu Mikke hinschaute, und trat mir in Gedanken gegen das Schienbein. Auf der Rückfahrt wurde wieder ein Kartenspiel ausgetragen, an dem auch Koivu, gestärkt durch eine weitere Tablette, teilnahm. Ich lieh mir seinen Schal, band ihn um die Ohren und ging an Deck, um dem Kapitän und Mikke Gesellschaft zu leisten. Rödskär war nur noch ein flacher Streifen am Horizont, wir näherten uns bereits den Schären vor Espoo. Ich setzte mich zu Mikke, denn bei dem Motorenlärm trug die Stimme nicht weit.
    »Seija Saarela erreiche ich wohl am besten zu Hause?«
    »Sie hat keinen festen Job. Wollt ihr sie als Nächste in die Mangel nehmen?«
    Ich gab keine Antwort. Stumm hielt ich das Gesicht in die Sonne, die nun schon so niedrig stand, dass sie eine goldene Bahn über das Wasser zog. Über uns

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