Der Windsänger
Seht ihr?«
Ihre Blicke folgten seinem ausgestreckten Finger und sie erkannten mit Mühe weit fort auf der schleimigen graubraunen Oberfläche des Sees eine Hügelkette. Plötzlich bemerkten sie, dass sich in der Nähe der Hügel etwas regte. Ungläubig beobachteten sie, wie eine Gestalt durch den Schlamm ging und plötzlich versank. Da sich ihre Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahmen sie nun weitere Gestalten wahr, die lautlos auftauchten und wieder in der Finsternis verschwanden – alle so dunkel wie der Schlamm, über den sie schlichen.
»Leben hier unten Menschen?«, fragte Hanno.
»Ja. Viele Tausende. Männer, Frauen, Kinder. Primitive, entartete Menschen, die sich kaum von Tieren unterscheiden.«
Er forderte sie auf näher an das Geländer heranzutreten. Direkt vor ihnen befand sich ein Tor im Geländer, hinter dem ein schmaler Landungssteg in den See hinausragte. Etwa sechs Meter darunter waren mehrere lange, flache, zur Hälfte mit allem möglichen Abfall beladene Lastkähne an den Pfeilern des Stegs festgemacht.
»Sie leben von dem, was wir wegwerfen. Sie leben im Müll und vom Müll.« Er wandte sich an Kestrel. »Du hast gefragt: ›Was können Sie mir denn noch antun?‹ Hier ist die Antwort. Warum arbeiten wir härter? Warum setzen wir uns höhere Ziele? Weil wir nicht so leben wollen wie die Menschen hier unten.«
»Ist mir egal«, entgegnete Kestrel achselzuckend. Der Oberste Prüfer blickte sie scharf an. »Es ist dir egal?«, wiederholte er langsam.
»Ja.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Dann lassen Sie es bleiben.«
»Beweise es.«
Er öffnete das Tor im Geländer und hielt es weit auf, damit sie hindurchgehen konnte. Kestrel schaute auf die glitschigen Planken hinaus.
»Geh schon. Geh bis zum Ende. Wenn es dir wirklich egal ist.«
Kestrel setzte einen Fuß auf den schmalen Steg und blieb dann stehen. In Wahrheit fürchtete sie sich vor dem Untersee. Doch in ihr brodelten Wut und Stolz und sie hätte alles getan, um dieses glatte Lächeln vom Gesicht des Obersten Prüfers zu wischen. Also machte sie einen zweiten Schritt.
»Das reicht, Kess«, mischte sich ihr Vater ein. »Du hast dein Ziel erreicht, Maslo. Du kannst sie jetzt mir überlassen.«
»Wir haben dir deine Kinder viel zu lange überlassen, Hanno.« Sein Tonfall war so gelassen wie immer, doch nun schwang Verärgerung in seiner Stimme mit. »Kinder folgen dem Beispiel ihrer Eltern. Doch in dir ist etwas zerbrochen, mein Freund. Du hast keinen Kampfgeist mehr.«
Kestrel hörte seine Worte und wurde von kalter Wut ergriffen. Sofort begann sie entschlossen den Steg entlangzugehen. Dabei schaute sie starr geradeaus und richtete den Blick dorthin, wo das Licht auf die dunkle Oberfläche des Sees hinunterstrahlte. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und ging immer weiter.
»Kess! Komm zurück«, rief ihr Vater.
Er wollte ihr folgen, doch Maslo Inch packte ihn am Arm und hielt ihn mit eisernem Griff fest.
»Lass sie gehen«, sagte er. »Sie muss ihre Lektion lernen.« Er streckte seine freie Hand aus und betätigte einen langen Hebel am Tor des Stegs. Mit einem Zischen und Gurgeln begannen die Pfosten am äußersten Ende des Stegs im See zu versinken. Der Steg neigte sich wie eine Rampe nach unten und senkte sich immer tiefer in den Schlamm hinein. Kestrel schrie entsetzt auf, drehte sich um und versuchte die Planken hinaufzulaufen. Doch sie waren von einem schmierigen Film überzogen und sie fand keinen Halt darauf. Langsam rutschte sie zurück.
»Papa!«, rief sie. »Hilf mir!«
Hanno stürzte auf sie zu und versuchte wütend sich aus dem festen Griff des Obersten Prüfers loszumachen, doch es gelang ihm nicht. »Lass mich los! Was machst du mit ihr? Bist du wahnsinnig?«
Maslo Inch hatte den Blick auf Kestrel geheftet, die sich vergeblich bemühte nicht abzurutschen. »Abwärts, abwärts, abwärts«, rief er. »Na, Kestrel, ist es dir immer noch egal?«
»Papa! Hilf mir!«
»Hol sie rauf! Sie wird ertrinken!«
»Ist es dir immer noch egal? Oder wirst du jetzt härter arbeiten? Sag es mir! Ich will es von dir hören!«
»Papa!«, schrie Kestrel, als sie vom Ende des Stegs abrutschte und in den See glitt. Ihre Füße versanken mit einem widerlich schlürfenden Geräusch im Schlamm. »Ich gehe unter!«
»Sag mir, dass es dir nicht egal ist!«, brüllte Maslo Inch, der Hannos Arm so fest umklammerte, dass seine Knöchel ganz weiß geworden
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