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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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rebellische Kinder gedacht«, erklärte die Prüferin. »Solche, die völlig außer Kontrolle geraten sind. Und sie ist ziemlich, na ja… endgültig.« 
    Kestrel ging auf die Prüferin zu, nahm ihre Hand und hielt sie vertrauensvoll fest. Dann schaute sie mit großen, unschuldigen Augen zu ihr auf. »Haben Sie auch eine kleine 
    Tochter, Madam?«, fragte sie. 
    »Ja, meine Kleine. Ich habe auch eine Tochter.« 
    »Dann weiß ich, dass Sie das Beste für mich tun werden, Madam. Genau wie Sie es für Ihre eigene Tochter tun würden.« 
    Die Prüferin sah Kestrel an, seufzte leise und tätschelte ihr die Hand. »Tja«, sagte sie. »Ich glaube, wir gehen mal zum Obersten Prüfer, was meinst du? Vielleicht liegt hier ein Irrtum vor.« Sie drehte sich zu der Tür ohne Klinke um und rief: »Öffnen Sie bitte!« 
    Ein Wächter auf der anderen Seite öffnete die Tür. Kestrel und die Prüferin traten Hand in Hand in den Flur und dann auf den Platz hinaus. 
    Nun, da sie nicht getragen wurde, konnte Kestrel feststellen, dass sich die Rückwand des Großen Turmes, der in der Mitte des Kaiserpalastes stand, an eine Seite dieses Platzes anschloss. Dieser Turm war das höchste Gebäude in ganz Aramanth und man konnte ihn selbst vom Orangefarbenen Bezirk aus sehen. Aus der Nähe wirkte er unglaublich hoch – er reichte sogar über die Stadtmauern hinaus. 
    Als sie den Platz überquerten, öffnete sich eine kleine Tür am Fuß des Turmes und zwei Männer in weißen Talaren schritten heraus. Als sie die Prüferin mit Kestrel an der Hand bemerkten, runzelte der ältere der beiden Männer die Stirn und rief ihnen zu: »Was hat ein Kind aus dem Orangefarbenen Bezirk hier zu suchen?« 
    Die Prüferin erklärte es ihm. Der weiß gekleidete Mann studierte die Akte. 
    »Der Oberste Prüfer hat also die Spezialschulung für das Mädchen angeordnet«, stellte er mit schneidender Stimme fest. »Und Sie meinen sein Urteil anzweifeln zu müssen.« 
    »Vielleicht liegt hier ein Irrtum vor.« 
    »Sind Sie über diesen Fall eingehend informiert?« 
    »Eigentlich nicht«, entgegnete die Prüferin und wurde rot. »Es ist eher ein Gefühl.« 
    »Ein Gefühl?«, schnaubte der Mann verächtlich. »Sie wollen eine Entscheidung, die sich auf das restliche Leben dieses Kindes auswirken wird, auf ein Gefühl stützen?« 
    Das restliche Leben dieses Kindes! Ein Schauer durchrieselte Kestrel. Sie sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Hinter ihr lag das Gebäude für die Spezialschulung, aus dem sie gekommen waren. Vor ihr standen die Herren in Weiß. 
    »Ich wollte doch nur mit dem Obersten Prüfer sprechen, um sicherzugehen, dass ich seine Wünsche richtig verstanden habe.« 
    »Seine Wünsche sind hier schriftlich festgehalten. Sie sind doch absolut klar formuliert, oder etwa nicht?« 
    »Ja.« 
    Kestrel bemerkte, dass die Tür zum Turm nicht ganz geschlossen war. 
    »Wollen Sie ihm vielleicht unterstellen, dass er nicht wusste, was er tat, als er diesen Befehl gegeben und unterschrieben hat?« 
    »Nein.« 
    »Warum führen Sie ihn dann nicht aus?« 
    »Ja, das werde ich natürlich. Tut mir Leid.« 
    In diesem Moment wusste Kestrel, dass es nun keinen einzigen Menschen im Palast mehr gab, der ihr helfen würde. 
    Die Prüferin schaute sie betrübt an und sagte noch einmal, diesmal an Kestrel gerichtet: »Tut mir Leid.« 
    »Schon gut«, erwiderte Kestrel und drückte ihr sanft die Hand. »Danke, dass Sie es versucht haben.« Dann ließ sie die Hand los und rannte davon. 
    Erst als Kestrel schon durch die Turmtür geflitzt war und sie hinter sich zugezogen hatte, begriffen die Männer und die Prüferin, was geschehen war. An der Innenseite der Tür befand sich ein Riegel, den Kestrel vorlegte. Dann sah sie sich mit pochendem Herzen um, denn sie wollte wissen, wo sie gelandet war. 
    Sie stand in einer kleinen Diele mit zwei Türen und einer schmalen Wendeltreppe. Beide Türen waren verschlossen. Kestrel hörte die Stimmen ihrer Verfolger, die außen an der Turmtür rüttelten. Dann hämmerten sie gegen das Holz und versuchten den Riegel aufzubrechen. Schließlich rief jemand: »Du bleibst hier. Ich komme von der anderen Seite.« 
    Ihr blieb keine andere Wahl, sie musste die Treppe hinauf. 
    Je höher sie stieg, desto dunkler wurde es im Treppenschacht. Bald glaubte sie hören zu können, wie unten Türen geöffnet und geschlossen wurden. Sie lief weiter, so schnell sie nur konnte. Immer höher und immer im Kreis. Irgendwann

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