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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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sagte Kestrel. 
    Der Morah war wütend, so hieß es in der alten Geschichte, und entsandte eine schreckliche Armee, die Armee der Saren, um Aramanth zu zerstören. Da bekamen die Bewohner Angst, sie holten die Stimme aus dem Windsänger und übergaben sie dem Morah. Dieser nahm das Opfer an und die Saren kehrten um ohne Aramanth zu zerstören. Doch seit dieser Zeit hatte der Windsänger nie wieder gesungen. 
    Kestrel hörte aufgeregt zu. »Es stimmt!«, rief sie. »Im Hals des Windsängers ist ein Schlitz, in den man die Stimme hineinstecken kann. Ich hab ihn selbst gesehen!« 
    »Ja«, pflichtete ihr Hanno bei. »Ich auch.« 
    »Also muss die Geschichte wahr sein.« 
    »Wer weiß?«, sagte Hanno leise. »Wer weiß?« 
    Kestrels Bemerkung erinnerte sie alle an ihre Rebellion am Nachmittag und sie schwiegen. 
    »Vielleicht vergessen sie es ja«, sagte Ira Hath hoffnungsvoll. 
    »Nein«, entgegnete Hanno. »Sie vergessen es nicht.« 
    »Wir werden in den Kastanienbraunen Bezirk ziehen müssen«, meinte Bowman. »Aber ich verstehe nicht, was daran so schlimm sein soll.« 
    »Die Wohnungen dort sind ziemlich klein. Wir werden alle in einem Zimmer schlafen müssen.« 
    »Das finde ich gar nicht so schlecht«, erwiderte Bowman. »Das habe ich mir immer schon gewünscht.« 
    Kestrel warf ihm einen dankbaren Blick zu. 
    Seine Mutter gab ihm einen Kuss und sagte: »Du bist ein guter Junge. Aber dein Vater schnarcht, weißt du.« 
    »Wirklich?«, fragte Hanno erstaunt. 
    »Ich hab mich einigermaßen daran gewöhnt«, antwortete seine Frau, »aber die Kinder werden bestimmt eine Weile nicht gut einschlafen können.« 
    »Warum versuchen wir es nicht einfach mal?«, schlug Bowman vor. »Warum proben wir heute Nacht nicht für den Kastanienbraunen Bezirk?« 
    Sie trugen die Matratzen aus den Betten der Zwillinge in das Elternschlafzimmer. Dort stand das große Bett mit der bunt gestreiften Tagesdecke: rosa und gelb, blau und grün – Farben, die man in Aramanth selten zu Gesicht bekam. Ira Hath hatte die Decke selbst genäht und die Kinder liebten sie. 
    Sie schoben das Ehebett an die Wand und hatten so genug Platz, um die beiden Matratzen nebeneinander auf den Fußboden zu legen. Nun war der ganze Fußboden bedeckt und Pinpins Kinderbett passte nicht mehr ins Schlafzimmer. Also wurde beschlossen, dass Pinpin zwischen Bowman und Kestrel schlafen sollte. 
    Als alle bereit waren zum Schlafengehen, legten sich die Zwillinge hin, ihr Vater hob die schlafende Pinpin aus ihrem Bettchen im Flur und legte sie zu ihnen. Pinpin wurde wach, doch als sie ihren Bruder auf ihrer einen und ihre Schwester auf der anderen Seite entdeckte, zeigte sich ein schläfriges Lächeln auf ihrem kleinen runden Gesicht. Sie machte es sich bequem, drehte sich zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite, murmelte: »Bo lieb, Kess lieb«, und schlief wieder ein. 
    Die Eltern gingen nun ebenfalls zu Bett. Eine Weile lagen sie alle zusammengedrängt im Dunkeln und lauschten dem Atem der anderen. 
    Dann sagte Ira Hath in ihrer Prophetinnenstimme: »O unglückliches Volk! Morgen kommen die Sorgen!« 
    Sie lachten leise, wie immer, wenn sie die Prophetinnenstimme ihrer Mutter hörten. Doch sie wussten, dass sie Recht hatte. Zitternd kuschelten sie sich tiefer unter die Decken. Es war so ein schönes, sicheres, irgendwie familienhaftes Gefühl, gemeinsam in einem Zimmer zu schlafen, dass sie sich fragten, warum sie es nicht schon früher gemacht hatten und wann, wenn überhaupt, sie es wieder einmal machen könnten. 

5 Eine Warnung vom Obersten Prüfer 
    Die Vorladung kam schon am nächsten Morgen, während sie am Frühstückstisch saßen. Es klingelte an der Tür und draußen stand ein Bote des Prüfungsinstituts. Der Oberste Prüfer wünschte Hanno Hath umgehend zu sehen, ihn und seine Tochter Kestrel. 
    Hanno erhob sich. »Na, komm, Kestrel, bringen wir es hinter uns.« 
    Kestrel blieb mit trotziger Miene sitzen. »Wir müssen nicht hingehen.« 
    »Wenn wir nicht hingehen, lassen sie uns von den Konstablern abholen.« 
    Kestrel stand langsam auf und schaute den Boten bitterböse an. »Machen Sie mit mir, was Sie wollen«, sagte sie. »Es ist mir egal.« 
    »Ich?«, gab der Bote gekränkt zurück. »Was habe ich damit zu tun? Ich überbringe bloß die Botschaften. Glaubst du vielleicht, dass mir jemand erklärt, was sie bedeuten?« 
    »Sie müssen die Botschaften ja nicht überbringen.« 
    »Ach nein? Wir wohnen im Grauen

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