Der Windsänger
schwer und mit einem großen Eisenriegel verschlossen. Der Oberste Prüfer legte die Hand auf den Riegel und drehte sich noch einmal zu Kestrel um.
» ›Was können Sie mir denn noch antun?‹ Eine interessante Frage, aber leider die falsche. Du solltest dich lieber fragen: ›Was kann ich mir selbst noch antun? Und denen, die mir etwas bedeuten?‹« Er stemmte den Eisenriegel nach oben und drückte die schwere Tür auf. Dahinter führte ein feuchter Steintunnel abwärts in die Finsternis. »Ich werde euch jetzt die Salzhöhlen zeigen. In gewisser Weise könnt ihr das als eine Ehre betrachten, denn nur sehr wenige Mitbürger bekommen sie zu Gesicht. Der Grund dafür wird euch bald einleuchten.«
Sie folgten ihm in das Tunnelgewölbe, in dem ihre Schritte widerhallten. Die Wände, stellte Kestrel nun fest, waren aus einem weißen Fels gehauen, der im schwachen Licht glitzerte: Salz. Sie wusste aus dem Geschichtsunterricht, dass Aramanth auf Salz errichtet worden war. Die Manth – ein umherziehendes Volk auf der Suche nach einem Ort, an dem es sesshaft werden konnte – hatten Spuren des Minerals entdeckt und sich hier niedergelassen, um es abzubauen. Die Spuren waren zu Adern und die Adern zu Höhlen geworden, bis die Manth sich schließlich in eine riesige unterirdische Schatzkammer vorgegraben hatten. Das Salz hatte sie reich gemacht und mit diesem Reichtum hatten sie ihre Stadt erbaut.
»Habt ihr euch jemals gefragt, was aus den Salzhöhlen geworden ist?«, fragte Maslo Inch, während sie durch den langen, gewundenen Tunnel hinabstiegen. »Nachdem das Salz abgebaut worden war, blieb eine große Leere übrig. Ein großes Nichts. Viel Platz. Was glaubt ihr, was fängt man mit so viel Platz an?«
Jetzt konnten sie das Geräusch von fließendem Wasser hören, ein leises, tiefes Gluckern. Die feuchte Luft war von einem stechenden, fauligen Geruch erfüllt.
»Hundert Jahre lang haben wir das aus der Erde geholt, was wir am meisten haben wollten. Und hundert weitere Jahre lang haben wir das in die Erde zurückgegossen, was wir am wenigsten haben wollten.«
Der abfallende Tunnelweg mündete plötzlich in eine weite unterirdische Kammer, einen düsteren Raum, der vom Rauschen des Wassers widerhallte, so als ob sich tausend Bäche in ein unterirdisches Meer ergossen. Der Geruch war nun unverkennbar, durchdringend und Ekel erregend.
Maslo Inch führte sie zu einem langen Geländer. Unterhalb davon lag ein riesiger dunkler Schlammsee, der wie eine zähe Masse in einem gigantischen Kessel hier und dort mit dumpfen Geräuschen Blasen warf. Die Wände, die den See umschlossen, glitzerten und glänzten, als wären sie mit Schweiß bedeckt. Große Eisenrohre ragten daraus hervor, aus denen graues Wasser floss – mal Tröpfchenweise, mal als Schwall.
»Abwasserkanäle«, erklärte der Oberste Prüfer. »Kloaken. Nicht schön, aber notwendig.«
Wegen des Gestanks hielten sich Kestrel und ihr Vater die Nase zu.
»Du denkst, wenn du machst, was du willst, und dich in der Schule nicht anstrengst, wirst du mit deiner Familie aus dem Orangefarbenen in den Kastanienbraunen Bezirk ziehen müssen, junge Dame. Du denkst, das macht dir nichts aus. Vielleicht werdet ihr auch vom Kastanienbraunen in den Grauen Bezirk ziehen müssen. Du denkst, auch das macht dir nichts aus. Im Grauen Bezirk ist es zwar nicht schön oder komfortabel, aber dafür seid ihr dort ganz unten und man wird euch endlich in Ruhe lassen. Das denkst du doch, oder nicht? Das Schlimmste, was euch passieren kann, ist, dass ihr bis in den Grauen Bezirk hinunterziehen müsst.«
»Nein«, erwiderte Kestrel, obwohl sie genau das gedacht hatte.
»Nein? Du denkst, es könnte noch schlimmer kommen?«
Kestrel gab keine Antwort.
»Da liegst du richtig. Es könnte sogar sehr viel schlimmer kommen. Der Graue Bezirk ist zwar ärmlich, aber immerhin ein Teil von Aramanth. Es gibt jedoch noch eine Welt unterhalb von Aramanth.«
Kestrel schaute auf die trübe Oberfläche des Sees. Er erstreckte sich bis weit in die Ferne, weiter als Kestrel sehen konnte. Und ganz weit entfernt glaubte sie ein Leuchten zu erkennen, einen Lichtkegel – wie ein Sonnenstrahl, der die Wolken durchbricht und auf ferne Hügel scheint. Sie heftete den Blick auf dieses ferne Leuchten und fand den stinkenden See beinahe schön.
»Vor euch liegt der Untersee, ein See aus faulender Materie, der größer ist als ganz Aramanth. In diesem See gibt es Inseln aus Schlamm.
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