Der Windsänger
Land bis zum Meer sehen, in der anderen erstreckte sich die weite Wüste bis zur nebelverhangenen Bergkette im Norden.
»Das ist ja groß!«, stellte sie fest.
»Natürlich ist es groß. Sogar größer, als es dir von hier aus scheint.«
Kestrel schaute auf die Stadt mit ihren verschiedenen Bezirken hinunter: Scharlach und Weiß, die vertrauten orangefarbenen Straßen, Kastanienbraun und Grau – alles von den hohen, dicken Stadtmauern umschlossen. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie merkwürdig diese Vorkehrung war. »Wozu brauchen wir eigentlich Mauern?«
»Tja, wozu?«, gab der Bärtige zurück. »Wozu brauchen wir Bezirke in verschiedenen Farben? Wozu brauchen wir Prüfungen und Noten? Wozu müssen wir härter arbeiten und uns höhere Ziele setzen und morgen besser sein als heute?«
Kestrel sah ihn überrascht an. Er hatte Gedanken ausgesprochen, von denen sie immer gedacht hatte, keiner außer ihr hätte sie. »Aus Liebe zu meinem Kaiser«, zitierte sie den Gelöbniseid. »Und für die Herrlichkeit von Aramanth.«
Der Mann mit dem Bart gluckste leise. »Ha!«, rief er aus. »Ich bin dein Kaiser.« Und er aß noch drei Schokoladenbonbons.
»Sie?«
»Ja, ich weiß, es kommt dir unwahrscheinlich vor. Aber ich bin Creoth der Sechste, Kaiser von Aramanth. Und du bist diejenige, auf die ich all die Jahre gewartet habe.«
»Ich?«
»Na ja, ich wusste nicht, dass du es sein würdest. Ehrlich gesagt hatte ich einen kräftigen jungen Mann erwartet. Einen tapferen und starken Burschen, der dieser Aufgabe gewachsen ist. Aber jetzt bist du es halt.«
»O nein«, protestierte Kestrel. »Ich wollte doch gar nicht zu Ihnen. Ich wusste ja nicht einmal, dass es Sie gibt. Ich bin nur weggelaufen.«
»Red keinen Unsinn. Du musst es sein. Außer dir hat mich noch niemand gefunden. Sie sperren mich hier oben ein, damit mich keiner findet.«
»Sie sind doch gar nicht eingesperrt. Sie haben die Tür selbst aufgemacht.«
»Das ist doch eine ganz andere Geschichte. Entscheidend ist, dass du jetzt da bist.«
Offensichtlich ärgerte es ihn, wenn man ihm widersprach, deshalb schwieg Kestrel und er aß noch mehr Schokoladenbonbons. Er schien gar nicht zu merken, dass er sie aß, und noch weniger schien er zu merken, dass es höflich gewesen wäre, ihr welche anzubieten. Kestrel war sich nicht sicher, ob er wirklich der Kaiser sein konnte. Doch als sie sich im Zimmer umschaute, merkte sie, dass es tatsächlich sehr vornehm eingerichtet war. Auf der einen Seite des Raumes entdeckte sie ein reich verziertes Bett mit Vorhängen rundherum. Es sah aus wie ein Zelt. Auf der anderen Seite stand ein mit wunderschönen Schnitzereien verzierter Schreibtisch und rechts und links daneben waren Bücherregale mit edel eingebundenen Büchern. Dann gab es noch den Tisch, auf dem die Glasschüssel stand, einige tiefe Ledersessel, eine große Badewanne, weiche Teppiche auf dem Fußboden und bestickte Gardinen an den Fenstern. Die Fenster waren in Nischen eingelassen und verliefen um das ganze Zimmer. Dazwischen befand sich jeweils eine Tür. Acht Fenster, acht Türen. Durch eine dieser Türen war sie hereingekommen. Zwei weitere standen offen, doch es waren nur Schranktüren. Blieben noch fünf. Sicher würde sie durch eine dieser fünf Türen aus dem Turm gelangen.
Der Mann mit dem Bart entfernte sich nun von der Schale mit den Schokoladenbonbons und ging zu seinem Schreibtisch. Hier öffnete er nacheinander die kleinen Schubladen, als suche er etwas.
»Bitte, Sir«, sagte Kestrel. »Kann ich jetzt nach Hause?«
»Nach Hause? Wovon redest du? Natürlich kannst du nicht nach Hause. Du musst in die Hallen des Morah gehen und sie zurückholen.«
»Was zurückholen?«
»Ich habe die Wegbeschreibung hier irgendwo. Ja, hier ist sie.« Er zog eine verstaubte und vergilbte Schriftrolle hervor und wickelte sie auseinander. »Eigentlich wäre es meine Aufgabe gewesen.« Seufzend betrachtete er das Papier. »Hier. Es ist alles völlig klar, denke ich.«
Kestrel blickte auf das Papier, das er ihr hinhielt. Es war zwar rissig und verblichen, aber man konnte unschwer eine Landkarte darauf erkennen. Kestrel entdeckte die Küste und eine kleine Zeichnung, die offensichtlich Aramanth darstellte. Eine gestrichelte Linie führte von Aramanth über die Ebene zu einer Bergkette. An einigen Stellen, hauptsächlich am Ende der gestrichelten Linie, waren Beschriftungen auf die Karte gekritzelt worden – längere Reihen von
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