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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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kam Licht von oben. Sie gelangte an ein kleines vergittertes Fenster, das in die dicke Turmmauer eingelassen war. Durch das Fenster konnte sie die Dächer des Palastes sehen und einen flüchtigen Blick auf den Platz werfen, auf dem das Standbild des Kaisers Creoth stand. 
    Doch die Treppe führte noch weiter nach oben und so setzte Kestrel keuchend ihren Weg fort. Ihre Beine taten inzwischen weh und das Licht vom Fenster verschwand allmählich unter ihr. Verzerrte Geräusche drangen herauf – schnelle, polternde Schritte und dröhnende Stimmen. Immer höher stieg sie, aber langsamer jetzt, und sie fragte sich, wo die Treppe wohl hinführte und ob sie an ihrem Ende wieder vor einer verschlossenen Tür stehen würde. 
    Sie kam an ein zweites Fenster. Zitternd und erschöpft gönnte Kestrel sich hier eine kurze Pause und schaute auf die Stadt hinaus. Sie sah Menschen auf den Straßen und die eleganten Geschäfte und Häuser des Scharlachroten Bezirks. Dann meinte sie Schritte auf der Wendeltreppe unter ihr zu hören und die Angst gab ihr die Kraft, aufzustehen und weiterzulaufen. Immer höher, weiter und weiter. Vor Erschöpfung schon leicht schwindelig, zwang sie sich durchzuhalten und folgte der engen Wendeltreppe, die nicht enden zu wollen schien. Trapp, trapp, trapp drangen Stiefelschritte in den Steinmauern zu ihr herauf. Jetzt ist es nicht mehr weit, ermutigte sie sich selbst. Nicht mehr weit, nicht mehr weit, sagte sie im Rhythmus ihrer Schritte. Aber sie hatte natürlich keine Ahnung, wie weit sie noch zu klettern hatte. 
    Und dann, gerade als sie merkte, dass sie nicht weiterkonnte, erreichte sie einen winzigen Treppenabsatz mit einer Tür. Sie legte ihre zitternde Hand auf den Türknauf. Bitte, flehte sie in Gedanken, bitte sei nicht verschlossen. Kestrel drehte den Knauf und spürte, wie die Tür aufschnappte. Sie schob, doch die Tür bewegte sich nicht. Sofort brach ihre Angst, die durch diese letzte Hoffnung im Zaum gehalten worden war, aus ihr heraus und überwältigte sie. Bittere Tränen schossen ihr in die Augen, als sie zusammensank und sich vor die Tür kauerte. Dort schlang sie die Arme um die Knie und weinte sich beinahe die Augen aus. 
    Trapp, trapp, trapp kamen die Stiefel die Treppe herauf, immer näher. Kestrel wiegte sich schluchzend und wünschte, sie wäre tot. 
    Dann hörte sie ein anderes Geräusch. Schlurfende Schritte, ganz dicht neben ihr. Ein Riegel wurde zurückgeschoben. 
    Die Tür ging auf. 
    »Komm herein«, sagte jemand ungeduldig. »Komm schnell herein.« 
    Kestrel blickte auf und sah ein fleckiges rotes Gesicht, das auf sie hinunterschaute: tränende, hervortretende Augen und einen struppigen grauen Bart. 
    »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen«, sagte der Mann. »Aber da du jetzt endlich da bist, komm auch herein.« 

7 Ein weinender Kaiser 
    Der Mann mit dem Bart schloss die Tür und verriegelte sie hinter Kestrel. Dann bedeutete er ihr still zu sein. Von der anderen Seite der Tür drang das Geräusch trampelnder Füße nun deutlich zu ihnen herein. Wer immer es war, er erreichte das Ende der Treppe und blieb stehen. 
    »Na so was!«, rief er erstaunt. »Sie ist nicht da!« 
    Sie sahen, wie sich der Türknauf drehte, als er versuchte die Tür zu öffnen. Dann rief er die Treppe hinunter. 
    »Sie ist gar nicht hier, ihr dämlichen Pocksicker! Jetzt bin ich die ganzen fatzigen Stufen raufgeklettert und sie ist fatz noch mal nicht da!« Damit machte er kehrt und stieg die lange Wendeltreppe murrend wieder hinunter. 
    Der Mann mit dem Bart kicherte vergnügt. »Pocksicker!«, wiederholte er. »Das habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Es beruhigt mich, dass man diese alten Schimpfwörter noch benutzt.« 
    Dann nahm er Kestrel an der Hand und führte sie vor einem der Fenster ins Licht, damit er sie anschauen konnte. Kestrel betrachtete ihn ungläubig. Er war blau gekleidet, und das erstaunte sie. Niemand in Aramanth trug Blau. 
    »Na ja«, meinte er schließlich. »Eigentlich hatte ich mir dich etwas anders vorgestellt. Aber wir werden dich so nehmen müssen, wie du bist.« 
    Er ging zu einem Tisch in der Mitte des Zimmers, auf dem eine Glasschale voller Schokoladenbonbons stand, und aß drei nacheinander. Kestrel blickte inzwischen verwundert aus dem Fenster. Das Zimmer konnte nicht sehr weit unter dem Dach des Turmes liegen – vielleicht lag es sogar direkt darunter –, denn es überragte die Stadtmauern. In der einen Richtung konnte Kestrel über das

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